Der menschliche Körper

ist ein Wunder Fluch

Amaris Tyynismaa ist erst 14 Jahre alt

aber das weiß sie besser als jeder andere

Von Duncan Murrell

Amaris Tyynismaa: Der menschliche Körper ist ein Wunder, der menschliche Körper ist ein Fluch

Amaris Tyynismaa

Die Strecke war teilweise schlammig, aber der Himmel war klar, und das Novemberwetter gut genug, um schnell zu laufen. Das war genau das, was Jordan van Druff tat. Der muskulöse Achtklässler lag weit in Führung gegen die besten 13- und 14-Jährigen aus dem Süden der USA. Er ging den letzten Anstieg des fünf Kilometer langen Rennens vorsichtig an, bahnte sich seinen Weg durch die Felsen und Wurzeln, bis er den Hügel hinter sich gelassen hatte und, angefeuert von begeisterten Fans und Trainern, das Ziel ansteuerte. Er hatte alles unter Kontrolle. Dennoch sah er ängstlich aus.

Jemand hinter ihm kam den Hügel förmlich hinuntergeflogen, schien die Felsen und Wurzeln gar nicht wahrzunehmen. Eine Gestalt mit langen, wilden blonden Haaren, die Augen ganz fest auf Jordans Rücken gerichtet, als würden sie eine Beute anvisieren.

„Das ist ein Mädchen. Das ist ein Mädchen“, sagte einer der Trainer. Die Menschen drückten sich gegen die Absperrung, um einen Blick auf sie werfen zu können.

Ihr Name war Amaris Tyynismaa. Sie war 13 Jahre alt und bewegte sich geschmeidig. Gekleidet war sie in leuchtendes Pink und Orange. Mit ihren großen Schritten machte sie schnell Strecke gut, und ihre Schritte schienen noch größer zu werden, schienen ihr noch leichter zu fallen, je schneller sie lief.

Das Seltsamste war: Sie lächelte. Und das, obwohl Langstrecken-Läufe extrem anstrengend sind. Viele der Jungs, die sie hinter sich gelassen hatte, jubelten ihr zu.

Wäre das Rennen 200 Meter länger gewesen, hätte sie es vielleicht gewonnen. Als sie die Ziellinie zwölf Sekunden nach Jordan überquerte und dabei alle anderen Läufer weit hinter sich gelassen hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr: fünf Kilometer in 16:57 Minuten. Das war eine der besten Zeiten, die eine High School-Schülerin im vergangenen Jahr gelaufen war.

Nur war Amaris gar keine High School-Schülerin, sie ging immer noch zur Middle School. Tatsächlich war sie erst vor einem Jahr ihr erstes Rennen gelaufen.

Zur Zeit des Rennens, dem Foot Locker South Regional in Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina im letzten Herbst, hatte Amaris bereits eine High School-Meisterschaft in Leichtathletik in Alabama mit 80 Sekunden Vorsprung gewonnen. Das entspricht in etwa einem Sieg im Fußball mit fünf Toren Vorsprung.

Nachdem Amaris in Alabama einige weitere Landesrekorde geknackt hatte, wählte man sie in eine Besten-Auswahl für Hallen-Langstreckenläufer, in die sogenannte All-America. Sie war die einzige Schülerin einer Middle School unter lauter High School-Schülern.

Ihre Trainer sind der Meinung, dass sie das Zeug für eine große Karriere hat, vielleicht sogar bei den Olympischen Spielen starten könnte.

Sie sagen das mit Vorsicht, da es nicht ohne Risiko ist, sich so über eine noch sehr junge Läuferin zu äußern. Der Körper verändert sich, vielleicht lässt die Motivation nach, Verletzungen wie ein Bruch des Schienbeins oder des Sprunggelenks lassen sich nicht ausschließen. Das sind die Herausforderungen, denen jeder Läufer begegnen muss, der schon früh großes Talent verspricht. Amaris aber muss mit ganz anderen Herausforderungen fertig werden.

Am Tag vor dem Rennen nahm ihr Vater Mike, ein Air Force-Pilot, sie im Hotel wie ein kleines Mädchen auf den Arm und trug sie 17 Treppen über zahllose Stufen nach oben, da sie zu viel Angst hatte, den Fahrstuhl zu betreten.

Enge Räume lösen Panik und Angst in ihr aus: Sie errötet stark, ihr Herz beginnt zu rasen, ihr ganzer Körper wird heiß. Als sie das erste Mal den Fahrstuhl im Hotel sah, nahm sie die Treppen und verausgabte sich völlig. Das nächste Mal wollte ihr Vater das nicht noch einmal zulassen, erst recht nicht vor dem Rennen. Als sie gemeinsam die Treppen hinauf stiegen, hielt er sie fest, während Amaris versuchte, sich mit Witzen abzulenken und ihr Herz zu beruhigen.

Einige Monate später versuchte sich Amaris‘ Mutter Kristen zu erklären, wie jemand, der mit so unglaublich viel Talent gesegnet ist, gleichzeitig so zerbrechlich sein kann. Kristen ist extrem aufmerksam und fürsorglich, was ihre Kinder angeht. Grund genug für sie, immer wieder über den Kampf zwischen Amaris‘ Körper und ihrem Gehirn nachzudenken. „Wenn sie läuft“, sagt Kirsten, „dann läuft sie vor ihrer Krankheit davon, glaube ich.“

Als Amaris drei Jahre alt war, fanden ihre Eltern sie manchmal steif auf dem Boden liegend, ihre Augen starr auf die Decke gerichtet. Die Muskeln in ihrem Körper verkrampften sich alle gleichzeitig. Ihre Augen waren weit aufgerissen und fest auf einen Punkt gerichtet, ihr Gesicht war knallrot, da sie den Atem angehalten hatte. Nach ein paar Minuten stand sie auf und spielte weiter, als sei nichts gewesen.

Ein anderes Mal reagierte sie extrem empfindlich auf bestimmte Stoffe und Materialien, die mit ihrer Haut in Berührung kamen. So zog sie sich zum Beispiel einen Mantel an, weil sie nach draußen gehen wollte, und fiel im nächsten Moment weinend und tretend zu Boden.

Es folgten Jahre mit einer ärztlichen Untersuchung nach der anderen, unterbrochen von Tests und Therapien. Wann immer die Ärzte meinten, eine Antwort auf Amaris' Leiden gefunden zu haben, war die Familie wegen Mikes Job in der Army wieder gezwungen umzuziehen. Dann begann die ganze Prozedur von neuem.

Endlich, nach einem Jahr genauester Untersuchungen, stellte ein Arzt die Diagnose: Tourette-Syndrom, oder auch TS.

Trotz des weit verbreiteten und durch die Pop-Kultur vermittelten Bildes des Tourette-Syndroms als einer Art Schimpfwort-Krankheit, flucht Amaris nicht unvermittelt. Genau wie 90 Prozent der Betroffenen ruft sie also nicht wahllos Beleidigungen. Stattdessen verspürt sie ganz plötzlich den Drang, bestimmte Teile ihres Körpers auf eine ganz bestimmte Weise zu bewegen, oder auch kleine Geräusche in ihrem Hals zu machen. Dieser Drang wird als Tic bezeichnet.

Aber dieses kleine Wort wird dem, was es beschreibt, kaum gerecht.

Vor einigen Jahren waren die Tics so stark, dass sie Amaris völlig aus der Bahn warfen. Sie brauchte so viel Energie, um gegen die Tics anzukämpfen, dass sie sich in der Schule nicht mehr konzentrieren konnte. Sie wusste, dass die anderen Kinder sie für dumm hielten.

„Es ist, als säße da ein kleiner Teufel auf deiner Schulter, der dir befiehlt, bestimmte Dinge zu tun, und du tust alles, um dagegen anzukämpfen“, sagt sie.

Es gibt Kinder, die Jugend-Botschafter für die Tourette Syndrome Association sind, dem gemeinnützigen Interessenverband der Tourette-Patienten in den USA. Und es gibt Kinder, die für den Newsletter That Darn Tic („Der verdammte Tic“) schreiben. Aber so ein Kind ist Amaris nicht.

Sie hasst die Tics, und ganz besonders hasst sie die Vorstellung, dass andere Menschen der Meinung sind, sie solle die Tics doch einfach akzeptieren. So wie sie es sieht, wird sie von diesen Tics angegriffen.

Schlafstörungen treten bei einer Tourette-Erkrankung häufig auf. Die Schlafstörungen, unter denen Amaris litt – nächtlicher Terror, der im Kindergartenalter begann und einige Jahre anhielt – waren besonders gnadenlos.

Jede Nacht hörten Amaris‘ Eltern, wie sie 45 Minuten nachdem sie eingeschlafen war aus dem Bett auf den Boden fiel. Dann lief sie im Haus umher, lief schreiend die Treppen rauf und runter. Sie sah Flugzeuge fliegen, sah, wie sie sanken und vielleicht auch abstürzten. Sie fühlte sich verängstigt und einsam. Und sie verspürte wirkliche, körperliche Schmerzen, ein Brennen in ihrem Daumen.

Nach einer Weile beruhigte sie sich, ging zurück ins Bett und konnte sich am Morgen kaum an etwas erinnern.

„Es ist sehr traurig, sein Kind so leiden zu sehen“, sagt Kristen. „Besonders, wenn es so gar nicht dem eigentlichen Charakter entspricht, diesem selbstbewussten und tollen Mädchen. Aber dann ist da noch dieser andere Teil von ihr.“

Und dieser Teil zwang sie dazu, sich zu verstecken. In der vierten Klasse trug Amaris immer einen Stein bei sich, an dem sie reiben konnte und ein Kissen mit gut riechenden Kräutern, das sie drückte, wann immer sie die Tics kommen spürte. Es half ihr ein wenig.

Wie andere Kinder, die am Tourette-Syndrom leiden, entwickelte sie geheime Strategien und Techniken, um normaler zu wirken.

„Ich verspürte immer den Drang, meine Beine weit zu spreizen“, sagt Amaris. „Und ich erinnere mich an ein Mal, als ich lief und plötzlich diesen Drang verspürte, es zu tun. Ich musste einfach. Also tat ich so, als müsste ich mich einmal richtig recken und strecken, machte einen Hampelmann und ja… keiner hat was gesagt.“

Sie konnte es gar nicht abwarten, alleine auf dem Schulflur oder in einem Klassenzimmer zu sein, oder einen kurzen Moment zu erwischen, in dem keiner hinsah. Dann konnte sie ihre Hüfte rausstrecken, immer und immer wieder.

Oder ihren Mund so weit öffnen, wie es nur ging. Oder ihren Hals so hin- und herreißen, dass es ihr Schmerzen bereitete, aber auch Erleichterung verschaffte. Meistens jedoch musste sie sich zusammenreißen und sich die Tics für später aufsparen. Am Ende des Schultages war sie völlig erschöpft.

„Ich bin in das Auto meiner Mutter eingestiegen und war so kaputt und durcheinander und ich denke, auch verärgert über mich selbst, dass ich einfach schrie“, erzählt Amaris. „Ich hatte einen Wutanfall. Ich machte dann alle Tics. Ich weinte. Mein Gott, es war furchtbar. Ich freute mich, meine Mutter zu sehen, aber dann ging ich auf sie los.“

„Hurra, es ist Mom! Rrrroooaaaarrrr!“, lacht Mike. In der Familie ist es inzwischen normal, über die schlimmsten Zeiten und Geschichten zu lachen.

„Ich wollte ihr nicht wehtun, ich war nur so aufgelöst und durcheinander. Ich habe sie lieb, aber es musste einfach alles raus und unglücklicher Weise…. Es tut mir Leid, Mom.“

„Ich hab‘ dich lieb“, sagt Kristen.

„Ich dich auch, Mom.“

In der dritten Klasse begannen sich die Dinge für Amaris zu ändern. In dieser Zeit zog die Familie aufgrund einer Versetzung von Mike auf einen Stützpunkt der Royal Air Force nach Lakenheath in England. In der Feltwell Elementary School war zunächst alles wie immer. Amaris war still, sie murmelte leise, sie versteckte ihre Tics so gut es irgend ging.

Dann schlug Kristen vor, dass Amaris sich der Fußballmannschaft des Ortes anschließen sollte. Amaris stellte fest, dass ihr das Spiel Spaß machte, und sie gut war.

Aber es war noch mehr. Sie fand etwas Entscheidendes über das Tourette-Syndrom heraus: Sie konnte die Krankheit für eine Weile vergessen. Ihre Eltern bemerkten, dass sich ein Tic ankündigte, wenn sie in der Abwehr spielte, oder einfach einige Momente Zeit hatte, ruhig zu stehen ohne etwas zu tun.

Aber wenn der Trainer sie im Mittelfeld einsetzte, einer Position, die mit sehr viel Laufen verbunden war, zeigten sich so gut wie keine Tics. Immer in Bewegung zu sein, erlöste den Körper von seinen Zwängen.

Dieses Gefühl der Kontrolle war so ungewohnt, so erfrischend und stärkend, dass sie sich wünschte, das Fußballtraining möge niemals enden.

„Irgendwie wusste ich, dass ein Tic kommen würde, sobald das Training vorbei war. Vielleicht ein bisschen später, vielleicht in der Nacht. Ich erinnere mich daran, dass ich dem Trainer sagte: „Trainer, Trainer, können wir nicht noch fünf Minuten länger machen?“

„Auf dem Spielfeld verspürte ich ein Gefühl der Freiheit“, erzählt Amaris. „Ich war von den Zwängen befreit.“

Einige Athleten, die am Tourette-Syndrom leiden, schreiben ihrer Krankheit magische Kräfte zu. Tim Howard, der Torwart der Fußballnationalmannschaft der USA sagt, dass Tourette ihm Ideen und Reflexe ermöglicht habe, die anderen Spielern fehlten.

Der renommierte Arzt Oliver Sacks schrieb einmal über einen Tischtennisspieler, der an Tourette litt, dass dessen unnormale Schnelligkeit und Fähigkeit, selbst schwierigste Bälle anzunehmen und zurückzuschlagen, dem Syndrom zuzuschreiben seien.

Eine Erklärung für diese Fähigkeiten ist, dass Menschen mit Tourette-Syndrom häufig auch an Zwangsstörungen, beziehungsweise Zwangsneurosen leiden (so auch Amaris). Sie müssen bestimmte Verhaltensweisen ständig wiederholen: Ob es nun Bälle sind, die sie davor bewahren müssen, ins Netz geschlagen zu werden, oder sie ungewöhnlich lange Strecken laufen – so lange, bis sie es in ihrer eigenen Wahrnehmung genau richtig machen.

„Ich sage nicht, dass es gut ist, am Tourette-Syndrom zu leiden“, erklärte Sacks im vergangenen Jahr einem Reporter. „Aber wenn jemand Tourette hat, dann hat es auch gewisse Vorteile.“

Neue Forschungsergebnisse der britischen University of Nottingham zeigen, dass die Gehirne von Tourette-Patienten sich physisch von den Gehirnen anderer Menschen unterscheiden. In Momenten, in denen sie es steuern können, können sie den Körper besser kontrollieren. Außerdem verändert sich das Gehirn durch den jahrelangen, starken Widerstand gegen die Tics.

Neurologen der Tourette Syndrome Association stellen zwar keinen Zusammenhang zwischen dem Tourette-Syndrom und einer überlegenen Athletik her. Sie sind sich aber sicher, dass Sport oder anderweitige Beschäftigungen, die Aufmerksamkeit erfordern, die Symptome lindern.

Fußball hat den Lärm in Amaris‘ Kopf abgestellt. Auf dem Feld wurden die Tics weniger. In der Schule wurde sie besser. Sie redete mehr.

Tatsächlich redete sie sehr viel, so wie sie es jetzt tut. In ihrem letzten Spiel in England erzielte sie drei Tore, und die anderen Spieler hoben sie auf ihre Schultern, und trugen sie. Nur wenige Monate zuvor wäre das ein riesiges Problem für sie gewesen. Aber jetzt genoss sie es.

Dann zog ihre Familie nach Alabama.

Der Stress und die Angst, an einem neuen Ort sein zu müssen, verstärkten die Tics wieder. In einem neuen Haus, in einer Schule ohne Freunde. Mehr als jemals zuvor in ihrem Leben zermürbten die Tics Amaris. Aber England hatte sie etwas gelehrt. Sie beschloss, gleich zwei Fußballmannschaften und der Schwimmmannschaft beizutreten.

Bald darauf hörten Mike und Kristen Geschichten von sportlichen Meisterleistungen, die unglaublich schienen. Ihnen wurde erzählt, dass ihre Sechstklässlerin 1,5 Kilometer in weit unter fünf Minuten gelaufen war.

„Ich mag diesen Isaac“, sagt Amaris. „Er ist cool. Ich habe ihn nicht kennen gelernt, aber er ist ziemlich groß. Ja…“

„Ich dachte, da muss etwas mit der Bahn nicht stimmen“, sagt Kristen. Mike weigerte sich, es überhaupt zu glauben.

Auf dem Militärstützpunkt gab es ebenfalls eine Aschebahn, und so fuhr die Familie eines heißen Alabama-Morgens los, um Amaris bei einem Lauf auf der Bahn zu beobachten. Die erste Runde legte sie in einem ziemlich guten Tempo zurück. Mike und Kristen waren beeindruckt, aber noch nicht überzeugt. „Ich war mir nicht sicher, ob sie dieses Tempo durchhalten kann“, sagt Mike. Aber dann wurde sie immer schneller und schneller und lief die Strecke in einer Zeit von 5:36 Minuten.

„Da merkten wir, dass sie wirklich ziemlich gut war“, erzählt Mike.

Der Zeitpunkt für die Erfolge beim Laufen hätte nicht besser sein können. Fußball wurde ein bisschen zu viel für Amaris. In ihrer Mannschaft war sie mit Abstand die Jüngste und der Gedanke an das, was die anderen Mädchen über ihr Spiel sagten, setzte sie so unter Druck, dass sie die Freude am Spiel verlor. Schwimmen war ihr zu einsam. Ein Mannschaftsgefühl stellt sich nur schwer ein, wenn man die ganze Zeit unter Wasser ist.

Laufen aber fühlte sich genau richtig an. „Das ist mein Ding“, sagt Amaris gern. Nicht wie wir anderen, die O-beinigen Stolperer, die Schleicher und Lippen-Beißer. Amaris macht nie den Eindruck, als müsse sie sich außerordentlich anstrengen, um schnell zu sein.

Man muss die Landschaft um sie herum im Blick behalten, um abschätzen zu können, wie viel Strecke sie tatsächlich mit jedem ihrer Schritte macht. Dabei ist sie die ganze Zeit ausgeglichen. Es scheint, als wäre sie mehr in der Luft als auf dem Boden.

Fotos von Amaris, die sie beim Zieleinlauf zeigen, sind unfreiwillig lustig, weil sie alle gleich sind: Hier das schnelle Kind, und dort die Zuschauer und Offiziellen, die ihr in ungläubigem Staunen hinterher starren.

Sogar die Brutalität des Sports weiß sie zu schätzen, wenn sie den Schmerz spürt und gleichzeitig über ihm steht. Sie mag es, wenn die Schmerzen und das Brennen in den Lungen langsam nachlassen.

Kürzlich erzählte sie mir von einem sehr aufschlussreichen Training.

„Es war wirklich hart“, sagt Amaris. „Am Ende mussten wir 400 Meter-Intervalle laufen. Ich lief und ich war so glücklich dabei. Ich weiß nicht, was es war, es war einfach so leicht. Und während ich rannte, rief ich: Ich fühle mich großartig! Ich weiß nicht, ich habe einfach… man spürt keinen Schmerz, man ist einfach da, und man denkt an so vieles, und es ist einfach schwer zu erklären.“

Diese Worte freuen ihren Trainer John Terino – und sie machen ihm gleichzeitig Angst. Amaris ist die talentierteste Läuferin, die er jemals trainiert hat, und häufig denkt er über ihre Zukunft nach.

Im Herbst möchte er einige der Jungs dazu bringen, zu verschiedenen Zeitpunkten in ihre Trainingsläufe einzusteigen, da keiner von Anfang bis Ende mit ihr mithalten kann. Während er sie auf mögliche Landesmeisterschaften im nächsten Jahr vorbereitet, schaut er sich Aufzeichnungen großer Rennen an, um sich eine Strategie zu überlegen.

Auch Terino weiß, dass die Zukunftsaussichten junger Wunderläufer nicht immer rosig sind. Er sieht, wie Amaris sich selbst antreibt, was für eine Perfektionistin sie ist und oft kommt ihm der Gedanke, ob er all das wirklich verantworten kann.

Was wird mit ihr geschehen, wenn es schief geht? „Meine größte Angst ist es, der Mensch zu sein, der erst feststellt, wie unglaublich gut sie ist, und sie dann kaputt macht“, sagt Terino.

Amaris glaubt, dass
sie das Tourette-Syndrom
besiegt hat.
Aber das Gehirn
verändert sich
nicht
einfach so.

Bei Wettkämpfen ist Amaris nie allein. Mindestens ein Mitglied der Mannschaft ist immer in ihrer Nähe. Nach den Rennen zieht sie sich ein Sweatshirt über und albert mit den anderen herum, bis sie sich selbst für ihre Rennen bereit machen müssen.

Natürlich hatte Amaris auch immer Freunde, aber nie zuvor war sie so eng mit einer so großen Gruppe befreundet, mit Jungen und mit Mädchen. Sie nennt sie ihre Familie, und sie behandeln sie genauso, wie alle anderen auch.

Aber sie ist anders. Sie ist eine der besten jungen Läuferinnen der USA. Das bedeutet, dass sie immer unter Beobachtung steht, ständig analysiert wird. Erst vor wenigen Monaten bekam sie eine Einladung der University of Kansas, deren Frauen-Team 2013 Leichtathletik-College-Meister wurde.

Kinder in der Schule begrüßen sie mit High Fives; Kinder, die sie nicht einmal kennt. Bei Wettkämpfen lassen die anderen Mädchen sie nicht aus den Augen und tuscheln hinter ihrem Rücken.

Manchmal wird es auch persönlich. Die Welt des Laufens ist eine Welt, in der es Erwachsenen widerspruchslos gestattet ist, ganz offen die Körper von Kindern zu analysieren und zu diskutieren. Fremde spekulieren über die Länge der Knochen, die Bauchmuskulatur, die Position der Hüfte und der Brüste.

Der Körperbau von Amaris ist ein weitverbreitetes Thema. Bei Wettkämpfen wie auch in Läufer-Foren im Internet. Zuerst machte es ihr Angst.

„Lol“ kommentierte ein User. „Sie ist winzig. Sobald sie in die Pubertät kommt, werden ihre Zeiten schlechter werden. Ich hab’s schon so oft gesehen.“

Bei einem Leichtathletik-Wettkampf, bei dem sie ihr Rennen mit zwei Minuten Vorsprung gewann, rief ein anderer Trainer anschließend, jemand möge ihr doch ein Sandwich bringen.

Mike hatte noch nie so sehr den Wunsch verspürt, jemanden zu schlagen. Er entgegnete, dass seine Tochter einfach von Natur aus sehr dünn sei, einen Wachstumsschub durchmache, und es außerdem niemanden etwas anginge. Die Tourette-Erkrankung zwingt Amaris dazu, alle verfügbaren Kalorien zu verbrauchen.

Diese Art der Aufmerksamkeit wäre für jeden Teenager unangenehm. Aber mehrere Studien haben gezeigt, dass die Tics sich bei Menschen mit Tourette verstärken, wenn sie Angst, Anspannung oder Stress verspüren. Genau die Emotionen, die auch mit Ruhm und wichtigen Wettkämpfen einhergehen. Diese stärkeren Tics aber intensivieren das Gefühl der Verlorenheit, und der ganze Kreislauf beginnt von vorne.

Amaris Antwort darauf ist, so gut mit der Menge zu verschmelzen, wie irgend möglich. Mehr als alles andere fürchtet sie, dass andere sie seltsam finden könnten, oder sie als anders bezeichnen.

Sie hat sich bereits einen leichten Akzent angeeignet, wie ihn die Menschen im Norden Alabamas sprechen. Nicht zu stark, nur ein bisschen. Höflich hat sie ihren Schulleiter bei einer Versammlung darauf hingewiesen, nicht nur ihre sportlichen Leistungen lobend zu erwähnen, sondern auch die Leistungen ihrer Mannschaftskameraden.

Sie verbringt viel Zeit damit, sich auf YouTube Make Up-Videos anzusehen und entwickelt ein erstes Interesse für Jungs.

Bei einem Wettkampf schwärmten die Mädchen aus Amaris‘ Mannschaft besonders für einen Jungen, den wir hier einfach einmal zum Wohle aller Isaac nennen wollen. Zwar ist er kein Mannschaftskamerad, aber er ist groß, gut gebaut und er läuft unheimlich schnell.

„Oh, sieh mal Amaris, dort ist er, oh Gott“, platzte ein Mädchen aus Amaris‘ Mannschaft heraus.

„Looooos Isaac!“ rief Amaris.

Später weihte sie indirekt auch ihren Vater in ihre Schwärmerei ein, als sie sich zusammen ein Rennen von Isaac ansahen.

„Ich mag diesen Isaac“, sagte Amaris. „Er ist cool. Ich habe ihn noch nicht kennengelernt, aber…“

„Er ist also cool?“

„Er ist wirklich groß. Ja.“

Von außen betrachtet hat Amaris ein tolles Jahr. Sie hatte seit Monaten keine nennenswerten Tics mehr, und sie glaubt, Tourette besiegt zu haben („Sag nicht, dass es mir besser geht. Sag, dass ich vollständig gesund bin, denn ich bin ganz gesund!“, sagt sie immer).

Aber das Gehirn verändert sich nicht so schnell und auf wundersame Weise. Die Tourette-Struktur ist immer noch da. In einer unserer Unterhaltungen erwähnte Amaris‘ Vater den Tic mit ihrem Hals und Amaris wurde lauter: „Oh, hör‘ auf damit, sag das nicht, nein!“.

Mike entschuldigte sich sofort. Amaris beruhigte sich wieder. Aber sie würde diese Erinnerungen am liebsten vergessen und sie nicht mitnehmen in das neue Leben, das sie sich aufbaut.

Bevor Amaris das Laufen für sich entdeckt hat, war es ihre größte Herausforderung, ihren Körper unter Kontrolle zu halten. Jetzt sind es vielmehr innere Herausforderungen. Ihre Mutter Kristen meint, dass die körperlichen Herausforderungen jetzt zu mentalen Herausforderungen geworden sind.

„Ihr letzter Tic kam Ende des vergangenen Jahres, aber sie tut so, als wäre es viel länger her“, sagt Kristen. „Sie befindet sich in einer abflauenden Phase, aber selbst jetzt treten ihre Zwangsstörungen immer noch auf und überwältigen sie manchmal.“

Deshalb hält sie Wasserflaschen beim Öffnen ganz dicht an ihr Ohr. Um zu hören, wie das Siegel aufbricht. Für den Fall der Fälle. Sie wäscht sich immer noch so lange die Hände, bis sie wund sind; wenn auch nicht mehr so oft wie früher.

Nachdem sie das Buch Die Nacht von Elie Wiesel gelesen hatte, sprach sie wochenlang nur noch über den Holocaust. Manchmal vereinnahmen sie die Dinge völlig, sagt Kristen.

Eine andere Sache, die sie beschäftigt, ist der bevorstehende Umzug. Seit Amaris in der fünften Klasse ist, lebt die Familie in Montgomery, Alabama. Das ist eine vergleichsweise lange Zeit und immer wieder bittet sie ihren Vater, die Armee zu verlassen, um nicht wieder umziehen zu müssen.

Wenn sie ihn bittet, ist sie nicht zickig oder nervig, sondern es rutscht ihr einfach heraus, weil es etwas ist, mit dem sie sich viel beschäftigt. Schließlich war Mike gut ein Drittel ihres Lebens weit weg im Krieg. „Deshalb ist Amaris manchmal so müde“, erklärt Kristen. Der Gedanke daran, schon wieder ganz von vorne anzufangen, in einer neuen Schule, einem neuen Haus, mit neuen Leuten – „das ist einer der Auslöser für Tics“, sagt Kristen.

Als ich Amaris fragte, wie sie mit dem Druck umgeht, besonders mit den immer größer werdenden Erwartungen, was den Sport betrifft, war sie sehr zuversichtlich: „Manche Körper verändern sich nicht so sehr, aber andere Körper verändern sich schon. Das ist Gottes Plan. Wer kann schon genau sagen, was passiert? Das ist nun mal so.“

Auch ihre Eltern machen sich keine Sorgen, wie es mit ihrer sportlichen Karriere weitergeht. Sie machen sich vielmehr Sorgen wegen der Ansprüche, die damit einhergehen, eine der besten Läuferinnen des Landes zu sein und dass diese Ansprüche sie überfordern könnten. Sie wissen, wie sehr das Laufen das Leben von Amaris verbessert hat. Sie wollen nur nicht, dass wieder etwas zu viel für sie wird.

Währenddessen liest Amaris inspirierende Zitate und Sprüche aus einem Buch über das Glück, ein Geschenk ihrer Mutter. Außerdem zeichnet sie während des Schulunterrichts Bilder von lächelnden Mädchen auf ihre Beine.

Sie versucht die Jungs in ihrer Mannschaft zu ignorieren, die allesamt „blöd und ekelhaft“ sind. Weil sie Spucken und die Nase hochziehen. Einmal bewarfen sie Amaris mit Dreck und sagten, es sei Kuhmist. „Sie ist total ausgeflippt“, erzählt Winston Wright, der Sohn ihres Leichtathletik-Trainers und selber ein guter Läufer. „Gleichzeitig ist es aber so, als wäre sie eine von uns.“

Als der Startschuss fiel, preschte Amaris vor. Es war der erste Wettkampf der Saison unter freiem Himmel, und sie lief 1600 Meter gegen eine Gruppe von Mädchen, zu der auch Kaitlin York gehörte, eine kompakte, kräftige, 17-Jährige von der American Christian Academy, und eine der wenigen in Alabama, die mit Amaris mithalten können.

Amaris hatte dieses Rennen herbeigesehnt, seit sie einige Wochen zuvor daran gescheitert war, bei einem Rennen über 1600 Meter die 5-Minuten-Marke zu knacken. Das hatte sie verunsichert.

Vor dem Rennen sagte sie mir, dass sie erkältet sei, und dass sie Schmerzen in den Schienbeinen hätte – für sie waren das gute Neuigkeiten. In der Woche zuvor hatte sie sich gesundheitlich super gefühlt, und auch das hatte sie irritiert. „Ich hatte vergessen, wie man läuft. Ich bin es gewohnt, immer einen gewissen Schmerz zu fühlen, und wenn der nicht da ist, dann fühlt es sich nicht richtig an“, erzählte Amaris.

In den ersten zwei Runden waren die beiden Konkurrentinnen fast gleichauf. Keine andere Läuferin fand Anschluss, aber Kaitlin war verbissen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, Amaris hielt ihre Hände locker und geöffnet.

Zu Beginn der dritten Runde gab Amaris‘ Coach ihr zu verstehen, dass sie lächeln solle, und das tat sie. „Und jetzt zieh davon“, rief er weiter, und auch das machte sie.

„Tolle Arbeit, Kaitlin!“, rief Amaris Kaitlin zu, bevor sie davonrannte. Kaitlin erwiderte nichts.

„Das hat mich irgendwie verletzt“, sagte mir Amaris später.

„Amaris, weißt Du was es heißt, jemanden zu verhöhnen?“, fragte ich.

„Ja! Aber ich habe mich doch nur für sie gefreut!“

„Die meisten Menschen beglückwünschen sich nicht während des Rennens“, erwiderte ich.

„Es war schön, mit jemandem zusammen zu laufen“, antwortete sie leise und ein bisschen traurig.

Die letzte Runde war ein Wunder. Kaitlin fiel neun Sekunden zurück, und der Rest des Feldes lag sogar noch weiter hinter ihr. Von den meisten Plätzen aus war es kaum möglich, Amaris und gleichzeitig auch alle anderen im Blick zu behalten. Sie war wieder allein.

Jedes Zeichen von Anstrengung war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie war einfach weg, in ihrer eigenen Welt. Trainer Terino nennt diesen Gesichtsausdruck: „Die Freude, die Erde durch eigene Kontrolle und Kraft zu durchkreuzen.“ Amaris beendete das Rennen in 4:59.50 Minuten.

Als sie die Ziellinie überquerte, quietschte Amaris vor Freude: „Yay!“ Die Äußerung war viel schwächer, als wenn sie von einem Tic erfasst schreit. Es war nur ein kleiner piepsiger Ausbruch der Freude, bei dem sie ihren Kopf zurückwarf. Sie glaubte, sie würde das „Yay!“ herausschreien, aber einen Schrei brachte sie nicht hervor.

Auf der Fahrt nach Hause erzählte Amaris Mike und mir, wie sehr sie es hasste, etwas anderes als Sportkleidung zu kaufen. Dann aber kamen wir an einem Kaufhaus vorbei, und sie fragte, ob wir kurz anhalten könnten, um ein wenig zu stöbern.

Im Kaufhaus bahnte sich Amaris ihren Weg durch die Abteilung für Damenbekleidung. Zunächst sehr schnell. Sie griff nach Shorts, Oberteilen, Kleidern und Röcken und ließ dann doch alles hängen. „Es gibt nichts, was ich mehr hasse als Shopping“, hatte mir Mike erzählt, aber dennoch schien er glücklich, seiner Tochter dabei zuzusehen, wie sie sich durch die Kleiderständer vorarbeitete.

Sie hielt einen Moment inne und betrachtete die Kleidung auf dem Ständer vor ihr. Kleidung, die ganz klar für Frauen gedacht ist, die ein ganzes Stück älter als Amaris sind. Ein grünes, gestricktes Oberteil mit einem langen Rückenteil und großen Löchern hatte es ihr angetan.

„Das hier ist so seltsam, ich mag es. Müsste ich ein Trägershirt darunter ziehen?“

„Ganz sicher müsstest du das“, antwortete ihr Vater.

Mike deutete auf ein T-Shirt mit einem schnauzbärtigen Totenkopf aus Strass-Steinen.

„Was hältst Du hiervon?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie. „Örks.“ Auch ein Kleid fand keine Zustimmung, ebenso wenig wie einige Wickelkleider, viel zu kurze Röcke und Blusen, die eher nach Immobilienmaklerin aussahen.

Sie kehrte immer wieder zu dem grünen Oberteil mit den Löchern zurück. „Ich mag es wirklich, Dad. Findest Du nicht auch, dass es irgendwie seltsam ist?“

„Ja.“

Sie hielt es hoch. Die ganze Szene erinnerte an eine Vorstellung, an ein Schauspiel. Als wäre Amaris mehr daran interessiert, eine Idee auszuprobieren, als ein Kleiderstück anzuprobieren. Sie drückte es an ihren Körper.

„Es ist so seltsam“, sagt sie schließlich. „So sehr ich.“


Dieser Artikel erschien ursprünglich bei der Huffington Post USA und wurde von Cornelia Lüttmann aus dem Englischen übersetzt.

Credits

Duncan Murrell arbeitet unter anderem für Harper's Magazine, The Oxford American und The Normal School. Er lebt in Pittsboro, North Carolina.
Der Fotograf Maciek Jasik lebt in Brooklyn, New York. Seine Bilder wurden unter anderem in New York, Adweek, Variety, Bullett und Wired veröffentlicht.
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