In Calgary war Christianne Boudreau zwischen ihrem Fußballtraining, den Arbeitsstunden als Buchhalterin und Essenseinladungen bei Nachbarn jede freie Minute damit beschäftigt, sich Videos der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) anzusehen, ihre Nase dicht am Computermonitor.
Sie saß im Keller ihres Mittelklassehauses in ihrem Mittelklassevorort, ein schmuckloser Raum, der einst ihrem ältesten Sohn Damian gehörte, und sah Männern dabei zu, wie sie wie Teenager mit großen Waffen posierten. Sie sah sich Feuergefechte an. Sie sah sich Hinrichtungen an. Doch Boudreau nahm das Blutvergießen kaum wahr. Sie konzentrierte sich auf die Gesichter hinter den Sturmhauben, versuchte die Augen ihres Sohnes zu erkennen.
In Kopenhagen war Karolina Dam verrückt vor Sorge. Ihr Sohn Lukas befand sich seit sieben Monaten in Syrien. Drei Tage vorher hatte sie von dem Gerücht gehört, dass er außerhalb von Aleppo verletzt worden sei, doch sie war sich sicher, dass er tot war. An diesem Abend saß sie allein zu Hause und zog nervös an einer E-Zigarette, sie konnte nicht anders und verschickte eine Viber-Nachricht über das Internet. „Lukas“, schrieb sie, „ich liebe Dich so sehr mein geliebter Sohn. Ich vermisse Dich und möchte Dich umarmen und Dich riechen. Deine weichen Hände in meinen halten und Dich anlächeln.“
Sie erhielt keine Antwort. Einen Monat später schrieb ihr jemand zurück. Es war nicht Lukas.
„Wie wär’s mit meinen Händen hehe“
Dam wusste nicht, wer sich über das Telefon ihres Sohnes Zugriff auf seinen Viber-Account verschafft hatte, doch sie wollte unbedingt mehr erfahren. Sie versuchte ruhig zu bleiben und antwortete: „Deine natürlich auch, Schatz, aber vor allem die von Lukas.“
Die Person fragte: „Kannst Du Neuigkeiten vertragen?“
„Klar, Liebling“, schrieb Dam. Es dauerte ein paar Sekunden, dann kam die Antwort.
„Dein Sohn wurde zerfetzt.“
In Norwegen erfuhr Torill, die ihren Nachnamen nicht nennen will, durch den Rekrutierer, der ihren Sohn Thom Alexander zum Kämpfen nach Syrien geschickt hatte, von dessen Tod.
Als sie die Nachricht erhielt, legte Torill sich einfach hin. Sie bewegte sich eine Woche lang kaum. Als sie schließlich die Kraft fand, sich zu duschen, zog sie sich aus und betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Sie fand, dass sie genau so aussah, wie sie sich fühlte: „Zerbrochen wie eine Vase.“
**In Brüssel"" war Saliha Ben Ali, eine moderne, in Europa geborene Tochter marokkanischer und tunesischer Einwanderer auf einer Konferenz zu humanitärer Hilfe, als sie plötzlich einen stechenden Schmerz im Bauch spürte. Sie hatte diese Schmerzen seit Jahren nicht mehr gehabt. „Es fühlte sich so an, wie wenn man schwanger ist und das Baby kommt“, erzählt sie. Sie fuhr nach Hause und weinte die ganze Nacht.
Drei Tage später erhielt ihr Mann einen Anruf von einer syrischen Nummer. Ein Mann sagte ihm, dass der 19-jährige Sohn Sabri, ein Junge, der Reggae geliebt hatte und sich mit seiner Mutter gerne über das Weltgeschehen unterhalten hatte, am gleichen Tag gestorben war, an dem Ben Ali krank wurde. Ihr wurde bewusst, dass es sich bei den Schmerzen um das Gegenteil der Geburt von Sabri handelte: Ihr Körper sagte ihr dadurch, dass ihr Sohn gerade starb.
Dies sind nur vier von Tausenden von Frauen, die ein Kind an den Islamischen Staat verloren haben. Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor vier Jahren sind über 20.000 Ausländer nach Syrien und in den Irak aufgebrochen, um für verschiedene radikalislamische Gruppen zu kämpfen. Mehr als 3.000 davon stammen aus westlichen Ländern. Während manche mit dem Segen ihrer Familie aufbrechen, verschwinden viele im Geheimen und verabschieden sich von jeglichem Sinn für Normalität. Nach ihrem Weggang erleben ihre Eltern eine Art von Trauer, die trotz ihrer Deutlichkeit surreal wirkt. Es geht um den Verlust eines Kindes, um Schuldgefühle, was er oder sie möglicherweise angerichtet haben kann, um Schamgefühle bei Anfeindungen von Freunden und Nachbarn, und es geht um Selbstzweifel wegen all der Dinge, die ihnen erst jetzt bewusst werden, und die sie über den Menschen, den sie in die Welt gesetzt haben, nicht wussten. Im letzten Jahr haben Dutzende solcher Mütter auf der ganzen Welt sich zusammengeschlossen und durch ihren gemeinsamen Verlust eine eigenartige Verbindung geschaffen. Sie wollen nichts mehr als den Sinn hinter der Sinnlosigkeit, was mit ihren Kindern passiert ist, zu verstehen – um dadurch vielleicht doch noch etwas Sinnvolles hinter dem Tod ihrer Kinder zu entdecken.
Im April besuchte ich Christianne Boudreau in Calgary und sie erzählte mir, wie zuversichtlich sie war, als Damian den Islam für sich entdeckte. Mit ihren 46 Jahren wirkt Boudreau noch immer etwas mädchenhaft, mit ihrer schmalen Nase und strahlenden, prüfenden braunen Augen. Ihr Ehemann verließ die Familie, als Damian zehn war, und der Junge zog sich in seine Computerwelt zurück, weil er in der richtigen Welt nur Verzweiflung und Verlust erlebt hatte. Als er 17 war, wollte er sich selbst umbringen, indem er Frostschutzmittel trank.
Kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erzählte Damian seiner Mutter, dass er sich für den Koran interessierte. Obwohl Boudreau ihn christlich erzogen hatte, begrüßte sie seine Konvertierung. Er suchte sich einen Job und hatte mehr soziale Kontakte. „Es hat ihn geerdet, ihn zu einem besseren Menschen gemacht“, erinnert sie sich. Doch 2011 fielen Boudreau Veränderungen an ihrem Sohn auf. Wenn er zu Besuch war und seine neuen Freunde anriefen, ging er nur draußen ans Telefon. Er aß nicht zusammen mit der Familie, wenn Wein auf dem Tisch stand. Er erzählte seiner Mutter, dass Frauen unter der Obhut von Männern stehen sollten und dass es in Ordnung sei, mehr als eine Frau zu haben. Er sprach von gerechtfertigten Tötungen. Im Sommer 2012 zog er zusammen mit einigen neuen muslimischen Freunden in eine Wohnung, die direkt über der Moschee im Zentrum von Calgary lag, wo sie alle zusammen beteten. Er ging regelmäßig ins Fitness-Studio und ging mit seinen Mitbewohnern in der Wildnis außerhalb der Stadt wandern. Der Konflikt in Syrien war zu der Zeit noch in seiner Anfangsphase, doch Boudreau dachte, dass ihr Sohn, der oft unruhig wirkte, sich nur in einer schwierigen Phase befinde und er darüber hinwegkommen würde. Im November verließ Damian Kanada und er sagte seiner Mutter, dass er nach Ägypten ziehen wolle, um dort Arabisch zu studieren und ein Imam zu werden. Zu Boudreaus Unbehagen brach er schnell den Kontakt ab.
Am 23. Januar 2013 war Boudreau krankgeschrieben, um ihre Rückenschmerzen auszukurieren, als zwei Männer an ihre Tür klopften. Sie sagten ihr, dass sie kanadische Geheimagenten seien. Damian sei nicht in Ägypten. Er war zusammen mit seinen Mitbewohnern nach Syrien gereist, um sich dort Jabhat al-Nusra anzuschließen, einer der Al-Qaida zugehörigen Gruppe. Als die Agenten gegangen waren, „war ich psychisch krank“, so Boudreau. In den darauffolgenden Tagen und Wochen war sie rund um die Uhr damit beschäftigt, sämtliche Dschihadistische Webseiten auf der Suche nach ihrem Sohn zu durchforsten. „Wie krank und pervers ist das eigentlich?“, fragt sie.
Die meisten jungen Menschen, die aufbrechen, um sich radikalen Gruppierungen in Syrien anzuschließen, betreiben Takfir – das bedeutet, dass sie sämtliche Kontakte zu allen Ungläubigen, einschließlich ihren Eltern abbrechen, die ihnen bei ihrem Dschihad im Wege stehen könnten. Doch ab dem Februar begann Damian, seine Mutter alle zwei bis drei Tage anzurufen, oftmals, während er Wache hielt. „Man konnte all die Geräusche im Hintergrund hören“, so Boudreau. „Ich hörte, wie Menschen sich etwas auf Arabisch zuriefen.“ Einmal erzählte Damian ihr, dass die Flugzeuge tief flögen, was bedeute, dass sie bald Bomben abwerfen würden. Er rannte los, während Boudreau noch immer am Telefon war. Doch Damian war meist vorsichtig mit dem, was er seiner Mutter erzählte, und sie weiß bis heute nicht, was er dort eigentlich machte. Bei jedem möglichen Szenario dreht sich ihr der Magen um.
Im Sommer 2013 wurden ihre Gespräche immer schmerzhafter. „Man versucht, sie zum Nachhausekommen zu bewegen und man bittet und fleht, dann versucht man, sich normal zu unterhalten“, erinnert sich Boudreau. „Und dann beginnt man erneut, zu bitten und zu flehen.“ Sie fragte Damian, wie er sich fühlen würde, wenn sein Halbbruder Luke, der zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt war und Damian wie einen Vater liebte, nach Syrien gehen würde. Damian antwortete, dass er dann stolz sei. „In diesem Moment wurde mir klar, dass mein Sohn verschwunden war, dass ein Fremder in seinem Körper steckte“, so Boudreau. Sie versuchte, Luke ans Telefon zu holen, doch der wippte nur weinend vor und zurück und fragte: „Wann kommst Du wieder nach Hause?“, bis Damian wütend wurde. Irgendwann hörte er auf „,ich liebe Euch’ und ‚ich vermisse Euch’ zu sagen“, so Boudreau. Und schließlich rief er gar nicht mehr an. Später erfuhr sie, dass der Islamische Staat sich zu dieser Zeit von al-Nusra abgespalten und Damian sich dem IS angeschlossen hatte.
Im August schrieben sie zum letzten Mal miteinander, als Damian Boudreau über seinen neuen Facebook-Account kontaktierte. Bei diesem Austausch war sie bittend und vorsichtig; Damian hingegen wirkte förmlich, herablassend und schmerzhaft erwachsen.
Wir vermissen Dich alle sehr und lieben Dich auch sehr
Wir sind alle sehr traurig darüber, dass Du uns verlassen hast und Dich in Gefahr begeben hast, während wir jeden Tag darüber nachdenken, ob es Dir gut geht oder nicht. Für mich als Mutter ist es sehr schwer, den Kummer ihrer Kinder und auch ihren eigenen mitansehen zu müssen ... Der Gedanke daran, dass ich Dich nie wieder sehen oder umarmen kann, bricht mir das Herz. Du wirst das vermutlich nie verstehen, denn Du wirst niemals eine Mutter sein.
Damian antwortete noch am selben Nachmittag. Er ernähre sich gut, sagte er, er habe Arabisch gelernt und er stehe auf der Warteliste für eine Frau und ein Haus – er wolle sich ganz auf diese Dinge konzentrieren.
Ich vermisse Dich auch, aber wie Du Dir vielleicht bereits gedacht hast, hat sich an meinem Glauben, meinen Absichten oder meiner aktuellen Lage nichts geändert.
Ich weiß, dass Du Dir Sorgen um mich machst und dass Du mich liebst. Das ist nichts Neues für mich.
Am Abend des 14. Januars 2014 rief ein Journalist Boudreau an und machte sie auf einen Tweet aufmerksam, demzufolge Damian in Haritan, in der Nähe von Aleppo, von der Freien Syrischen Armee hingerichtet worden sei. Boudreau erledigte noch eine wichtige Aufgabe, bevor alles um sie herum Dunkel wurde: Sie musste Luke davon erzählen, bevor er es aus dem Fernsehen erfuhr. Sie fuhr mit ihm in die Praxis ihres Psychologen, damit sie es nicht selbst tun musste.
Spätabends am 30. Januar postete Luke die letzte Nachricht in dem Facebook-Thread. Sie lautete:
Ich vermisse Dich und wünschte, Du wärst nicht getötet worden.
Nach Damians Tod befand Boudreau sich am Rande des Wahnsinns. Sie weinte die ganze Zeit; sie konnte nicht schlafen. „Wann immer ich meine Augen schloss, konnte ich die Stille nicht ertragen“, sagt sie. Sie musste sich wegen Luke, Damians Halbschwester Hope und ihrer Stieftochter Paige zusammenreißen, doch, so sagt sie, „ich fühlte mich so einsam und leer.“
Nur eine Person schien zu verstehen, wie sie sich fühlte. Kurz vor Damians Tod hatte Boudreau Kontakt zu Daniel Köhler aufgenommen, ein deutscher Experte für Deradikalisierung. Köhler, der in Berlin wohnt, half anfangs schwerpunktmäßig Aussteigern aus der Neonaziszene, doch in den vergangenen Jahren hatte er auch vermehrt mit radikalen Muslimen und ihren Familien gearbeitet. Nach Damians Tod stand Köhler in engem Kontakt zu Boudreau und versuchte ihr dabei zu helfen, zu verstehen, was mit ihrem Sohn passiert war.
Was Boudreau erlebt habe, sei ein klassischer Radikalisierungsprozess, erzählte mir Köhler. Die jeweiligen Phasen ähneln einander stark, ob die Person sich nun einer Gruppe religiöser Extremisten anschließe oder einer Neonazivereinigung. Die rekrutierten Personen sind anfangs euphorisch, weil sie endlich den Sinn des Lebens entdeckt haben. Sie versuchen, alle Angehörigen ebenfalls davon zu überzeugen – die Muslime, die in den vergangenen Jahren zu Radikalen geworden waren, forderten überdies ihre Angehörigen auf, sich um das Leiden der Syrer zu kümmern. Die zweite, frustrierendere Phase tritt ein, sobald die Konvertiten feststellen, dass ihre Lieben nicht empfänglich für ihre Botschaft sind. Zu diesem Zeitpunkt beginnt der Familienkonflikt: Streitigkeiten zu den Themen Kleidung, Alkohol, Musik. Zu diesem Zeitpunkt beginnen die Konvertiten, auf den Ratschlag ihrer Glaubensbrüder zu hören, dass man seinem Glauben möglicherweise nur treu bleiben kann, wenn man in ein muslimisches Land zieht. In der letzten Phase verkaufen die Betroffenen ihren Besitz, oftmals trainieren sie sich körperliche Fitness an oder erlernen eine Kampfsportart. Mit steigender Frustration wächst der Wunsch danach, etwas tun zu können, ins Unermessliche und schließlich erscheint ihnen Gewalt als die einzige Lösung.
Sechs Monate nach Damians Tod besuchte Boudreau Köhler in Berlin und er stellte ihr drei andere Mütter vor, deren Söhne ums Leben kamen, nachdem sie sich extremistischen Gruppen in Syrien angeschlossen hatten. Sie hatten alle Fotoalben mitgebracht und teilten die Erinnerungen an ihre Söhne. Sie entdeckten Gemeinsamkeiten in den Geschichten, wie ihre Kinder radikalisiert worden waren. Der Sohn einer dieser Frauen, erfuhr Boudreau, war in derselben Stadt getötet worden wie Damian. Die Gespräche mit den anderen Müttern gaben Boudreau das Gefühl, „als ob diese schwarze Wolke allmählich verschwinden könne“, sagt sie. Nach Köhlers Aussage habe er versucht, diesen Frauen zu zeigen, dass „sie nicht die einzigen auf der ganzen Welt seien, die so einen Schicksalsschlag erfahren mussten, und dass sie nichts hätten tun können.“
Nach ihrer Rückkehr nach Hause stürzte Boudreau sich in Aktion. Ihr wurde klar, dass das, was ihrer Familie passiert war, auch anderen passieren könnte. Mit Köhlers Unterstützung gründete sie zwei Organisationen – Hayat Canada und Mothers for Life – die die Eltern von radikalisierten Jugendlichen unterstützen. Sie reist durch Kanada und spricht mit Lehrern, Studenten und Polizeibehörden darüber, wie man Anzeichen von Radikalismus bei Freunden oder Verwandten erkennen und was man dagegen tun kann. Sie ist oft in den Medien zu sehen. „Wir klären unsere Kinder nicht darüber auf“, so Boudreau, während wir in ihrer Küche sitzen. Ihre Raucherstimme klingt rau und eindringlich. „Wir klären unsere Kinder über Drogen, Sex, Alkohol und Mobbing auf – all die anderen wichtigen Themen, und wir sagen ihnen auch, wie sie damit umgehen sollten, aber wir erzählen ihnen nichts davon.“
Nach Aussage von Köhler gibt es für gewöhnlich zwei Gruppen von Menschen, die gut zu den jungen Radikalen durchdringen und sie zum Umkehren bewegen können: ehemalige Radikale und Mütter. „Mütter spielen im Dschihadistische Islam eine äußerst wichtige Rolle. Mohammed sagte, das Paradies liegt zu Füßen der Mütter’. Man muss sie um Erlaubnis bitten, wenn man in den Dschihad ziehen oder sich verabschieden will.“ Er erzählt, dass er mit Kämpfern zu tun gehabt hätte, die verzweifelt versucht hätten, ein letztes Mal mit ihren Müttern zu skypen, sei es, um sich zu verabschieden oder sie zu überzeugen, damit sie sich im Paradies wiedertreffen könnten. Eine österreichische NGO namens Frauen ohne Grenzen errichtet gerade „Mütterschulen“ in Ländern, die von islamischen Extremisten befallen sind, wie Pakistan oder Indonesien. Dort sollen Mütter lernen, wie sie ihre Kinder davon abhalten können, zu Radikalen zu werden. Die Organisation baut aktuell fünf weitere Mütterschulen in Europa auf.
Denn bis auf wenige Ausnahmen übernehmen Mütter diese Aufgabe. In Familien mit Kindern wie Damian, die zum Islam konvertieren, sind die Väter oftmals nicht im Bilde. In Familien, in denen muslimische Immigranten in den Westen auswandern, sind die Väter zwar oft anwesend aber sie kümmern sich wenig. Laut Magnus Ranstorp, ein schwedischer Experte und Co-Vorsitzender des Radicalization Awareness Network, einer Arbeitsgruppe der Europäischen Union, fühlten sich muslimische Männer durch die westliche Gesellschaft oft entmannt und verschwinden im Hintergrund. „Die Mütter sind der Dreh- und Angelpunkt“, sagt er.
Die Experten, mit denen ich mich unterhalten habe, haben auch festgestellt, dass die Mütter und Väter, die ihre Kinder an Dschihadistische Gruppierungen verloren hätten, auf unterschiedliche Weise mit ihrer Trauer umgingen. Die Väter ziehen sich oft in Schuld- und Schamgefühlen zurück: Es fällt ihnen schwer, vor anderen zuzugeben, dass sie auf irgendeine Weise in der Erziehung versagt haben. Die Mütter tun das Gegenteil davon. Sie wollen ihren Kummer unbedingt mit anderen teilen, sie stürzen sich in die Welt, in die ihre Kinder abgewandert sind, sie versuchen, so viel Information wie möglich zu erlangen. Auf diese Art gewinnen sie ein Minimum an Kontrolle über das Unvorstellbare. „Sie tauchen selbst ein“, berichtet mir Köhler.
Bei meinem Besuch nahm Boudreau mich mit in eine katholische Sekundarschule im Ort, in der die meisten der Schüler Flüchtlinge waren. Sie zeigte ihnen ein Video über Damian, das sie gemacht hat. Am Ende sieht man eine Nahaufname von Boudreaus tränenüberströmtem Gesicht. Sie wendet sich an ihren toten Sohn: „Als dieser letzte Augenblick gekommen war, hattest Du da Angst?“, fragt sie. „Hast Du Dir gewünscht, dass ich Deine Hand halte?“ Und dann, in einer ruhigeren, beinahe drohenden Stimme: „Was hatte all dies mit Gott zu tun?“
Als die Lichter wieder angehen, herrscht beim Publikum fassungslose Stille. Bevor sie auf die Bühne geht und die Fragen der Schüler mit einer Sicherheit beantwortet, die sie sich in Dutzenden von Präsentationen angeeignet hat, braucht Boudreau einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Obwohl sie diesen Film schon unzählige Male gesehen hat, musste sie im Dunkeln dennoch wieder weinen.
Im Februar erhielt Boudreau die Email einer Frau aus Dänemark namens Karolina Dam. „Hi“, schrieb sie. „Ich würde gerne mehr über Ihr Projekt erfahren. Ich habe ebenfalls einen Sohn verloren, der in Syrien ums Leben kam und ich möchte gerne Kontakt zu anderen Müttern mit den gleichen Problemen bekommen.“ Vergangenen Mai habe ich Dam in ihrer Wohnung in einer Arbeiterklassegegend von Kopenhagen besucht. Dam, die ein rundes Gesicht und kräftige, kupferbraune Haare hat, bot mir einen Platz in ihrem lichtdurchfluteten Esszimmer an, das sorgfältig in Lila und Weiß dekoriert und mit Stoff und Plastikblumen ausgestattet ist. Sie brachte eine Kanne Kaffee und ihr frisches, selbstgebackenes Brot und erzählte mir alles über ihren Sohn, Lukas, den sie fast ausschließlich als „meinen Jungen“ bezeichnet.
Lukas war immer schon ein introvertiertes Kind, und seine sozialen Kontakte endeten oft in Konflikten. Als er zehn war, wurde bei ihm das Asperger Syndrom und ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert, doch seine Probleme verschlimmerten sich in der Pubertät noch mehr. Er wurde dabei erwischt, wie er mit einem gestohlenen Roller herumfuhr; er klaute den Verlobungsring der Mutter eines Freundes. Dam vermutete, dass er sich einer Bande angeschlossen hatte.
Doch endlich gab es Licht im Dunkel. Lukas bekam eine Lehrstelle in einer Autowerkstatt im Ort, in der hauptsächlich Muslime arbeiteten. Sie nahmen den Jungen auf und führten ihn in ihre Religion ein. Dam erfuhr erst, dass ihr Sohn vor ein paar Monaten konvertiert war, als sie bemerkte, dass er tagsüber nichts aß. Er nahm am Ramadan teil.
Ähnlich wie bei Boudreau kam auch Dam die Verwandlung ihres Sohnes anfänglich wie ein „kleines Wunder“ vor. Endlich öffnete sich ihr verschlossener Junge. Und ebenso wie Boudreau verstand auch Dam nicht, warum Lukas sich darüber aufregte, wenn sie Musik hörte, oder warum er eines Tages weinend nach Hause kam, weil er Angst hatte, dass sie nicht zusammen mit ihm ins Paradies käme, wenn sie nicht zum Islam konvertierte.
Lukas hatte sich nicht komplett verändert. Er war noch immer oft wütend; er schlug Löcher in seine Zimmerwände. Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, zog Dam Sozialarbeiter zu Rate und ließ ihn in eine Anstalt einweisen, doch Lukas floh. Er begann, mit drei befreundeten Islamisten, bei denen es sich um lauter ältere Männer handelte, in Wohnungen in der Gegend von Kopenhagen zu wohnen. Dam gab eine Vermisstenanzeige auf, doch weil Lukas jeden Tag zu Hause anrief, sagte die Polizei ihr, dass er eigentlich nicht als vermisst gelte. Als er wieder nach Hause zurückkehrte, beschloss sie, ihn wieder einweisen zu lassen, und als sie seine Sachen packte, fand sie eine kugelsichere Weste unter seinem Bett. Lukas war damals erst 15.
Im Mai 2014, kurz nach Lukas 18. Geburtstag, verschwand er. Ein paar Tage später rief er Dam von der türkischen Grenze aus an und sagte, dass er Urlaub brauche. „Ich hatte Angst“, erinnert sich Dam. „Er ist noch ein Junge, er ist noch verletzlich, er ist noch leicht zu manipulieren. Und die Tatsache, dass er von sich aus gegangen ist, ohne sich zu verabschieden oder irgendetwas, das ist verdammt beängstigend! Wenn ein Junge sich nicht von seiner Mutter verabschiedet, dann ist etwas faul.“
In den Monaten nach Lukas Abreise hielten sie immer Kontakt. „Irgendwie wollte er mich nicht loslassen“, so Dam. Er erzählte ihr, dass er in türkischen Flüchtlingslagern arbeite, Kleidung verpacke, Wasser hole und Essen zubereite. Doch laut Jakob Sheikh, ein dänischer Journalist, der ein Buch über Lukas und andere dänische Dschihadisten schreibt, reiste er irgendwann nach Syrien und schloss sich Ahrar al-Sham, einer islamistischen Gruppe in der Provinz Idlib, an. Und trotzdem klingt Lukas in den Nachrichten an seine Mutter viel mehr wie ein Erstsemesterstudent, der Heimweh hat. „Ruf mich bitte zurück“, schrieb Lukas Dam am 15. August. „Ich liebe Dich sehr, meine einzige Mama.“ „Tausend Küsse, wo immer Du gerade sein magst“, antwortete Dam und übersäte ihre Nachrichten mit Emojis. Er fragte nach der Katze. Dam schickte ihm Sprachnachrichten mit ihrem Schnurren. Sie fragte, ob sie Geld auf sein Konto überweisen solle, hauptsächlich um sicherzugehen, dass er seine Karte nicht an jemand anderen weitergegeben hatte. Auf einem Foto von Lukas aus seiner Zeit in Syrien hat er sich gerade für das Gebet gewaschen, sein Gesicht und seine Haare sind noch nass. Er sieht glücklich aus.
Ende September meldete sich Lukas nicht mehr. Dam wusste damals nicht, dass zu dieser Zeit die Führerschaft von Ahrar al-Sham bei einem Angriff des IS zerschlagen worden war und dass Lukas sich dem Islamischen Staat angeschlossen hatte. Als er sich zwei Monate später wieder meldete, versuchte Dam ihn bei einem Chat auf Viber zu überreden, wieder nach Hause zu kommen. Sie erzählte ihm, dass sie sein Zimmer renoviert habe – sie habe die faustgroßen Löcher in der Wand neu verputzt und die Wand neu gestrichen – außerdem habe sie Geld für sein Flugticket nach Dänemark beiseite gelegt.
Dam setzt ihn unter Druck: „Ich muss wissen, wann Du nach Hause kommst.“
„Das kann ich Dir nicht sagen weil ich es nicht weiß!“
Es war ihr letzter Kontakt. In der Nacht vom 28. Dezember 2014, so erinnert sich Dam, klingelte Adnan Avdic, einer von Lukas muslimischen Freunden aus Kopenhagen, an der Haustür. „Er brauchte ewig, um die Treppen heraufzugehen, dabei sind es nur vier Stufen“, so Dam. „Er stand im Flur und druckste herum, also zog ich ihn herein. Er weinte, er konnte mir nicht in die Augen schauen.“ Alarmiert sah Dam sich nach einem Messer um, falls sie sich selbst verteidigen müsste. „Ich begann, ihn anzuschreien und packte ihn am Hals“, erinnert sie sich. Avdic platzte heraus, dass Lukas verwundet sei. „Und genau dann wusste ich, dass er tot war“, so Dam.
Nachdem Avdic gegangen war, schickte er Dam am Abend einen Link zu einer geschlossenen Facebookgruppe. Sie versendete eine Beitrittsanfrage und wurde sofort aufgenommen. Dam sah, dass jemand ein Foto gepostet hatte, auf dem Lukas auf dem Boden saß, neben ihm eine AK-47, im Hintergrund sah man eine IS-Flagge an der Wand hängen. Als sie durch die anderen Posts scrollte, starteten die Videos automatisch. „Ich schaue mir Videos von Enthauptungen, Vergewaltigungen, Morden an – Scheißsachen, nur um Informationen über meinen Jungen zu bekommen“, erinnert sie sich. Schnell stieß sie auf einen Facebook-Post, bei dem es um den Tod von Shaheed geht, und sie wußte, dass dies Lukas muslimischer Name war. Sie las: „Möge Allah unseren dänischen Konvertitenbruder namens Shaheed annehmen und möge er mit Allah wiedervereint werden.“ Dam war zu erschrocken, um etwas zu posten, doch schließlich schrieb sie:
das ist MEIN SOHN, ist er tot?
KONTAKTIEREN SIE MICH und sagen Sie se mir!!!!
Ein Mann namens Abu Abdul Malik antwortete bald darauf:
Karolina Dam, der Bruder hat in der Tat sofort an Sie gedacht und wie man Sie benachrichtigen könne.
Solche Nachrichten können in der Tat schwer für eine Mutter sein, egal ob sie eine Gläubige ist oder nicht, weil die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind etwas ganz Besonderes ist, und das ist einer der Gründe dafür, dass es etwas gedauert hat ... Möge Allah die Mutter durch all dies führen und möge Allah unseren Bruder annehmen.
Unzählige Fragen quälten Dam. Was hatte ihr Sohn wirklich in Syrien getan? Wie war er überhaupt dorthin gekommen? Vor allem konnte sie nicht verstehen, wie ihr sozial inkompetenter Sohn es geschafft hatte, derart wichtige Teile seines Lebens vor ihr geheim zu halten: Die Kränkung darüber bringt sie immer noch zum Weinen. In den folgenden Wochen kontaktierte sie Dutzende von anderen Kämpfern – jeden, der anscheinend Kontakt mit Lukas gehabt hatte, sie durchforstete ihre Social-Media-Profile so weit wie möglich. Zum Teil beinhaltete ihre Suche auch Pragmatismus: Dam hat keinen Beweis für den Tod ihres Sohnes, und wenn sie keinen vorlegen kann, muss sie fünf Jahre warten, um eine Sterbeurkunde zu erhalten. „Alles was ich habe ist eine verdammte Facebook-Statusnachricht!“, sagt sie. „Mehr gibt es nicht.“
Doch sie will vor allem deshalb alles wissen, weil sie vorher so wenig wusste. Dam erzählte mir, dass sie Techniken entwickelt habe, wie sie mit Dschihadisten in Kontakt kommen und Informationen aus ihnen herauslocken kann. „Man muss die Rolle der Mutter spielen, auch wenn man eigentlich andere Ziele verfolgt.“ Sie ermahnt sie, zu essen, sie nennt sie Liebling und sie schimpft mit ihnen, wenn sie unhöflich sind.
Dam drehte ihren Bildschirm herum und zeigte mir ein Bild von einem anderen Freund von Lukas aus Kopenhagen, Aziz (nicht sein echter Name), von dem sie glaubt, dass er in Syrien ist. Durch ihn hat sie einiges über Lukas erfahren. Aziz hat ihr Audiodateien geschickt, die Lukas aufgenommen hat, in denen er Aziz dazu auffordert, ihm zu folgen. (Das Versenden von Audiodateien ist eine Methode, wie die Kämpfer der Überwachung zu entgehen versuchen, da sie im Gegensatz zu Telefonanrufen nicht abgehört werden können.) Dam spielte mir ein paar der Dateien vor. Vögel zwitschern im Hintergrund, Autos fahren vorbei. Lukas lacht, er erzählt seinem Freund von der „angenehmen Atmosphäre“. In einer weiteren Nachricht klingt er aufgeregt. „Unsere Brüder und Schwester werden ermordet, sie werden abgeschlachtet wie Hühner, Hennen, Tiere“, sagt er und seine Stimme bebt vor Wut. In einer weiteren Nachricht erzählt er Aziz, dass er geheiratet hat, das wusste Dam nicht.
„Ich habe diesen Aziz ausdrücklich danach gefragt, ob er weiß, ob mein Sohn jemanden enthauptet hat“, sagt Dam. Sie schreit jetzt fast. „Ich muss das wissen!“ Die Kämpfer sind freundlich zu ihr. Sie sagen ihr, dass Lukas mit Gewalt nichts zu tun hatte, und manchmal will sie ihnen einfach glauben. Sheikh, der dies durch andere Kämpfer und den Geheimdienst überprüfen ließ, sagt, dass dies nicht der Wahrheit entspreche: Seine letzten Monate in Syrien habe Lukas als Kämpfer verbracht.
Dam ist gealtert, seit ihr Sohn nach Syrien gegangen ist. Der Kummer steht ihr ins Gesicht geschrieben und sie hat Falten bekommen. Auf dem Kaminsims im Wohnzimmer steht als Ersatz für ein richtiges Grab ein kleiner Altar für Lukas. In der Mitte steht ein „Müttertopf“, ein Tongefäß mit Henkeln, das in Dänemark traditionsgemäß mit Essen befüllt und Müttern geschenkt wird, die gerade ein Kind bekommen haben. Als Lukas immer radikaler in seinem Glauben wurde, fragte er Dam, ob sie alle Logos von seinen T-Shirts entfernen könne. Sie kam nie dazu, das zu tun, doch nach Lukas Tod fand sie eines seiner T-Shirts, das noch ungewaschen war. Es roch noch immer nach ihrem Jungen. Sie steckte es in eine Plastiktüte, um den Geruch zu erhalten, und verstaute es in ihrem „Müttertopf“.
Im März wurde ein in Norwegen geborener Kämpfer des Islamischen Staates, der bei seinen Kameraden unter dem Namen Abo Sayf al Muhajir bekannt war, in der Nähe von Kobani in Nordsyrien durch einen Kopfschuss getötet. In dieser Woche las dessen Mutter, Torill, zufällig einen Zeitungsartikel über Lukas und sie zwang sich, Dam ein paar Zeilen auf Facebook zu schreiben. Als ich Torill in ihrer Wohnung in Halden, einer kleinen Stadt umgeben von Seen, circa 120 Kilometer südlich von Oslo gelegen, besuchte, waren es genau zwei Monate, seit Abo Sayf gestorben war – auch wenn er für seine Mutter immer Thom Alexander bleiben wird. Von allen Müttern, die ich getroffen hatte, war ihr Verlust noch am aktuellsten. Doch sie konnte kaum darüber nachdenken, was mit ihrem Sohn geschehen war, weil ihren Töchtern das gleiche Schicksal drohte.
Als Torill, eine zierliche Blondine mit feinen Gesichtszügen, mir die Geschichte ihres Sohnes Thom Alexander erzählte, kamen mir die äußeren Umstände sehr bekannt vor. Es gab einen abwesenden Vater, der an einer Überdosis Heroin gestorben war, als Thom Alexander sieben war. Bei ihrem Sohn wurde mit 14 Jahren das Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätssyndrom festgestellt; als er Anfang 20 war, wurde er wegen Bagatelldelikten verhaftet und ging immer wieder auf Drogenentzug von immer härteren Drogen. Einmal wurde er für klinisch tot erklärt. Und dann entdeckte Thom Alexander in der Umkleide des Fitnessstudios eine Kopie der Shahadah, des muslimischen Glaubensbekenntnisses, und wurde zu einem ganz neuen Mann. Er hörte mit Heroin auf und rief seine Mutter wieder an; er bekam eine Stelle in einem Kindergarten und heiratete eine nette Marokkanerin. „Es war, als würde ich einen neuen Sohn bekommen, einen guten Sohn“, seufzt Torill.
Während wir uns unterhielten, kam Sabeen, Torills 17-jährige Tochter und Thom Alexanders Halbschwester ins Zimmer. Sie hat langes, dunkelbraunes Haar und einen verschmitzten Gesichtsausdruck. Sie trug eine schlabberige Jogginghose. Sie ließ sich auf die Couch fallen und stopfte sich ein Päckchen Kautabak unter die Lippe. Nachdem er konvertiert war, so Torill, tauchte Thom Alexander wieder verstärkt in Sabeens Leben auf. Er nahm sie und manchmal auch seine 28-jährige Schwester Sara mit in seine Wohnung in Oslo, wo er mit ihnen über seine neue Religion sprach. „Er erzählte mir, wie toll der Islam ist“, erzählte mir Sabeen verträumt. An einem Tag im Oktober 2013 nahm Thom Alexander Sabeen mit in seine Moschee, wo ihr zwei Frauen zeigten, wie man betete. Am nächsten Tag konvertierte sie.
Mittlerweile berichteten alle Medien über den Krieg in Syrien und Thom Alexander verbrachte seine Zeit damit, Kleidersammlungen für Flüchtlinge zu organisieren. Torill nahm ihrem Sohn das Versprechen ab, dass er nicht nach Syrien gehen würde. Doch es dauerte nicht lange, da ließ er sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratete eine Somalierin, die unbedingt in ein muslimisches Land ziehen wollte. Noch in diesem Jahr sagte er seiner Mutter, dass er sein Versprechen nicht länger einhalten könne.
Im Frühjahr 2014 bekam Torill Besuch vom PST, dem norwegischen Geheimdienst. Laut Torill sagten die Agenten ihr, dass sie Thom Alexander für ein Mitglied der Profetens Ummah hielten, einer Gruppe von Extremisten mit Sitz in Oslo, und dass er beabsichtige, Norwegen zu verlassen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Die PST-Agenten baten sie, sofort anzurufen, wenn sich etwas verändere und dies tat sie auch, als sie feststellte, dass Thom Alexander all seinen Besitz verkauft hatte. Sie hatte gehört, dass manche Menschen dies taten, bevor sie ins Kalifat aufbrachen. Doch der PST erwies sich nicht als sonderlich hilfreich. „Ich hatte den Eindruck, dass sie es nicht sonderlich ernst nahmen“, so Torill.
Am 26. Juni 2014 sah sie Thom Alexander zu letzten Mal. Er besuchte sie zu Hause und machte Pizza, er trug westliche Kleidung und hatte seinen Bart abrasiert. Manche Familien setzten ihre Hoffnung in derartige Entwicklungen, sie sehen es als Zeichen, dass ihr Kind bald wieder zu einem ganz normalen Leben zurückkehrt. Doch Torill hatte gehört, dass dies noch so eine Sache war, die junge Männer taten, kurz bevor sie nach Syrien gingen. Sie hatte ausführlich geplant, wie sie Thom Alexander davon abhalten könne, zu gehen, wenn es jemals soweit käme. Sie könnte ihn wegen seiner krimineller Drogenvergangenheit verhaften lassen, sie könnte zum Flughafen fahren und ein Riesentheater machen. Doch als sie ihm dabei zusah, wie er den Pizzateig ausrollte, war sie wie gelähmt. Sie war so fassungslos und voller Angst, sagt sie, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, was an diesem Tag noch passiert ist.
Nachdem Thom Alexander ihr Haus verlassen hatte, fuhren Leute von den Profetens Ummah ihn an den Flughafen. Torill hatte recht gehabt: Er hatte nicht seinen Bart abrasiert und sich westliche Kleidung angezogen, weil er wieder wie ein Europäer leben wollte, sondern weil er bei den Sicherheits- und Passkontrollen am Flughafen kein Aufsehen erregen wollte. Obwohl der PST ihn überwacht hatte, hatten sie Thom Alexander nicht davon abgehalten, sich einen Reisepass zu besorgen und das Land zu verlassen. Thom Alexander rief Torill ein paar Tage später von Syrien aus an. In Panik rief sie den PST an und erzählte, dass ihr Sohn gegangen sein. „Sie sagten: ,Danke, können wir sonst noch etwas für Sie tun?’“, erinnert sie sich.
Thom Alexander rief gelegentlich zu Hause an und schrieb seiner Mutter Facebook-Nachrichten. Er erzählte ihr, dass er in Rakka, der Hauptstadt des Islamischen Staates, einen Lastwagen fahre. Er schickte ihr Fotos von seiner Wohnung und der Straße, und vom Restaurant, in dem er mit seinen Kameraden Grillhähnchen aß. „Hundert Prozent halal“, strahlte er. Ihr fiel auf, dass er die Gesprächsthemen immer auf sie lenkte, wenn er mit Sabeen skypte. Als sie einmal die Familie ihres Vaters in Pakistan besuchte, bat Thom Alexander sie, ihr dort eine Frau zu suchen. „Ich habe mich schon umgeschaut, aber ich habe keine gefunden“, erinnert sich Sabeen und grinst verlegen.
Eines Tages ging eine Bombe nur knapp 50 Meter neben Thom Alexander hoch und tötete mehrere Kinder. „Wenn Du willst, schicke ich Dir Bilder von den Kindern, damit Du es selbst sehen kannst“, schrieb er seiner Mutter. Torill verdreht die Augen, als sie diese Nachricht laut vorliest. Sie scrollt durch ihre Nachrichten, was sie nicht mehr getan hat, seit ihr Sohn tot ist. Ich frage sie, wie sie sich fühlt, wenn sie das jetzt liest. „Oh, ich fühle gar nichts, ich lasse das nicht an mich heran“, sagt sie und verdeckt ihr Gesicht mit der Hand. In einer anderen Nachricht fragt sie ihn, ob er Enthauptungen gesehen habe. „Nein“, antwortet er, „doch ich habe die Köpfe von Enthaupteten herumliegen sehen.“ Darunter setzt er einen Smiley. Ende März rief Ubaydullah Hussain, der Anführer der Profetens Ummah, Torill an und sagte ihr, dass Thom Alexander tot sei. 1
Wir saßen auf Torills Balkon in Halden und blickten auf die grüne Kleinstadt. „Einst war ich glücklich, glücklicher als die meisten Menschen“, so Torill, ihr Gesicht völlig reglos hinter der großen Sonnenbrille. „Doch jetzt weiß ich nicht, wie ich noch weiterleben soll.“ Manchmal wird sie überwältigt von dem, was die Leute zu ihr sagen. Der Nachbar unter ihr nannte sie eine schlechte Mutter. „Wenn das mein Sohn gewesen wäre“, so habe er gesagt, „dann hätte ich ihm die Hände abgeschnitten.“ An manchen Tagen „wünsche ich mir eine Lobotomie, weil es so weh tut.“
Und dennoch kann sie ihrer Trauer nicht einfach nachgeben. Nachdem Thom Alexander gegangen war, hatte Torill zwei junge Muslime angerufen, die sich um die Deradikalisierung von norwegischen Jugendlichen kümmern, Yousef Bartho Assidiq und Faten Mahdi al-Hussaini. Sie hatte im Fernsehen von ihnen gehört. Nach dem Tod von Thom Alexander zogen die beiden fast bei der Familie ein, um ihr zu helfen. Sabeen nutzte das extrem aus, sie gierte nach Aufmerksamkeit. Dass sie das grausame Bild der Leiche ihres Bruders gesehen hatte, hatte etwas Zerstörerisches in ihr ausgelöst. Sie konnte sich in der Schule nicht konzentrieren und wollte nicht mehr in der Cafeteria essen. „Ich hatte das Gefühlt, dass jeder mich anstarrt“, erzählt sie. „Ich stehe gerne im Mittelpunkt, aber doch nicht so.“ Assidiq und Mahdi bemerkten, dass sie regelmäßig online mit Hussain, dem Anführer der Profetens Ummah, chattete. Irgendwann wurde aus den Chats schließlich ein Flirt.
In der Nacht vor Thom Alexanders Trauerfeier wurde Sabeen für ein Verhör von der Polizei abgeholt, die im Anschluss daran Assidiq und Mahdi darüber informierten, dass sie in wenigen Tagen mit Hussain durchbrennen wolle. Die Aktivisten wandten sich an die Stadtverwaltung von Halden, von der sie Mittel erhielten, Sabeen in den Urlaub nach Griechenland zu schicken, nur um sie von ihm wegzulocken. Er brach erst den Kontakt zu Sabeen ab, als Sara ihn anzeigte. Assidiq und Mahdi nahmen ihr den Pass weg.
Und als Sabeen endlich außer Gefahr schien, geriet Sara in die Hände der Profetens Ummah. Im Juni heiratete sie den Sprecher der Gruppe, Omar Cheblal. Die Zeremonie fand über Skype statt, weil Cheblal gerade erst aus Norwegen ausgewiesen worden war, weil er in Verdacht stand, eine Gefahr für die nationale Sicherheit darzustellen. Die beiden sind mittlerweile geschieden, und Assidiq und Mahdi haben auch Saras Pass weggenommen.
Ranstorp, der Deradikalisierungsexperte der EU, erzählte mir, dass dies kein ungewöhnliches Phänomen sei. Sobald die Konvertiten in Syrien ankämen, versuchten viele, ihre Geschwister nachzuholen. Wenn ein Kämpfer stirbt, belagern die Rekrutierer oft deren Familien und fordern sie dazu auf, ihnen weitere Kinder zu Verfügung zu stellen. Und die Geschwister ließen sich oft auf Dschihadisten ein, das dies ein Bewältigungsmechanismus sei, so Köhler: „Sie suchen nach dem Sinn dahinter und nehmen alles an, was dem Tod einen Sinn und Zweck verleiht. Am Ende unterstützen sie selbst die Sache.“ Sobald ein Kind mit militantem Islamismus in Berührung gekommen sei, „müssen wir uns um die ganze Familie kümmern“, erzählte mir Ranstorp.
Die Frage, wie man ein Kind schützen könne, das Gefahr laufe, zu radikalisieren, beschäftigt viele der Mütter ständig. Dam gibt sich beispielsweise die Schuld dafür, dass sie Lukas nicht dabei unterstützt hat, zu einer förderlicheren muslimischen Identität zu finden. „Ich hätte Lukas einmal oder zweimal pro Woche zu einem guten Imam bringen und im Auto warten sollen“, sagt sie. „Alle Mütter von Konvertiten sollten dies tun. Die Kinder kennen den Unterschied nicht, und wir auch nicht, denn wir sind keine Muslime.“
Torill wusste viel mehr darüber, was sie gerade erlebte, als die anderen Mütter. Sie wusste, dass es Thom Alexander in den Krieg nach Syrien zog und sie hatte ihn schwören lassen, nicht zu gehen. Sie rief den Geheimdienst dreimal an. Und dennoch musste sie feststellen, dass es in den meisten westlichen Ländern sehr schwer war, die Regierung zum Eingreifen zu bewegen. In keinem europäischen Land ist verboten, nach Syrien zu reisen, außer in der Türkei. Die Rekrutierungsstrategien des IS greifen viel schneller als die schwerfällige westliche Bürokratie. Die Gruppe rät den Rekrutierten, ihre Einreise auf vier verschiedene Stationen zu verteilen, damit sie nicht entdeckt werden. Manche europäische Kämpfer nutzen die offenen Grenzen Europas zu ihrem Vorteil und reisen einfach über Bulgarien in die Türkei.
Selbst wenn es um Minderjährige geht, nehmen die Regierungen oftmals ihre Authorität nicht wahr, um sie davon abzuhalten, nach Syrien zu gehen. Nach Lukas Tod gründete Dam eine Gruppe mit dem Namen Sons and Daughters for Scandinavian mothers (Söhne und Töchter für skandinavische Frauen). Ein Dänin, mit der sie in regelmäßigem Kontakt steht, nennt sich in der Presse Miriam. Miriam ist Muslima und sie erkannte sofort die Gefahr, als ihr Sohn Karim (nicht sein richtiger Name) begann, sich mit islamistischen Radikalen in Kopenhagen zu treffen. Sie informierte die Behörden, zerstörte seinen Pass und sorgte dafür, dass die dänische Regierung seinen Fall registrierte, damit er keinen neuen bekommen konnte. Innerhalb von vier Monaten war Karim, der damals 17 war, in Syrien. Er hatte die Unterschrift seines Vaters auf dem Einverständniserklärungsformular für Eltern gefälscht, um an einen neuen Pass zu kommen. (Dam fand irgendwann heraus, dass Karim und Lukas befreundet waren, und dass Karim ihr geschrieben hatte, dass Lukas „zerfetzt“ worden sei.)
Teil des Problems ist es, dass das Phänomen der Rekrutierung durch den IS so neu ist, dass Gegenmaßnahmen noch in den Kinderschuhen stecken. Viele westliche Länder überlegen noch, wie sie Dschihad-Rekrutierungen verhindern können, bevor sie über Strafen oder Möglichkeiten zur Wiedereingliederung nachdenken können. Eltern wie Torill, die Alarm schlagen, werden oftmals einfach wie Informanten behandelt: Ein amerikanischer Beamter erzählte mir, dass es den USA lieber sei, dass die ausländischen Kämpfer in Syrien sterben, als dass sie wieder nach Hause zurückkehrten.
Mittlerweile gibt es viel zu wenige Aktivisten, die sich gegen die Radikalisierung einsetzen. Die Mütterschulen, die von den Frauen Ohne Grenzen betrieben werden, werden erst in einem Jahr fertig sein. Assidiq und Mahdi, die Osloer Aktivisten, die Torills Töchter gerettet haben, erhalten keinerlei staatliche Unterstützung für ihre Organisation Just Unity; sie haben beide Mietrückstände von mehreren Monaten. Ranstorp und seine Arbeitsgruppe sind immer noch nur eine Arbeitsgruppe. Ihre Gespräche seien „wie in dem Film ,Und täglich grüßt das Murmeltier’. Wir haben keine legalen Mittel“, sagt er. „Wir können sie nur kurzfristig aufhalten.“
Eines Montagmorgens standen zwei kleine Frauen, Dominique Bons und Valerie, am Bahnhof Gare du Nord in Paris und warteten. Sie trugen an diesem warmen Frühlingsmorgen beide Jeans, ihr Haar war kurz geschnitten. Menschen hasteten an ihnen vorbei, doch die beiden Frauen unterhielten sich lebhaft. Ein Zug aus Brüssel fuhr ein und schon sahen sie, wie Saliha Ben Ali sich mit einem kleinen Koffer durch die Menschenmenge drängte. Die drei Frauen begrüßten sich stürmisch, wie Kindheitsfreunde, die sich endlich wiedersahen. Für den Rest des Tages besuchten die Frauen ein Café nach dem nächsten – sie unterhielten sich, tranken Kaffee und Mojitos und lachten fast ununterbrochen. Die Freude über die Anwesenheit der Anderen war überwältigend.
Hier erlebte ich zum ersten Mal, wie der Kummer von diesen Müttern abfiel, wenn sie mit anderen Müttern wie ihnen zusammen waren. Dies sind die wenigen Male, so sagte mir Ben Ali, dass „man nicht das Gefühl hat, eine schlechte Mutter zu sein.“ Meist werden sie mit Unverständnis und Verurteilungen konfrontiert. Torill sagte mir, dass sie zu einem Psychologen gegangen sei, um ihre Trauer bewältigen zu können, und er habe ihr geraten, ihren Kummer zu verarbeiten, indem sie einen Brief an Thom Alexander schrieb, in dem sie ihm mitteilte, dass er „Scheiße fressen“ solle. „Er sagte, dass jeder, der sich dem IS anschließt, eine Kugel in den Kopf verdient hätte“, so Torill. Freunde würden sich abwenden und viele Frauen hätten das Gefühl, dass ihre Ehemänner oder Partner ihr Bedürfnis, ständig mit ihnen über ihre Kinder zu sprechen, nicht erfüllen könnten. Boudreaus Partner versteht beispielsweise nicht, warum sie sich nach eineinhalb Jahren immer noch mit Damians Tod beschäftigt.
Bei den anderen Müttern müssten sie nicht viel erklären. Sie verstehen es einfach. Torill und Dam haben sich nie persönlich getroffen, da keiner von beiden genug Geld für die Reise hat, doch sie stehen über den Facebook-Messenger und Skype in ständiger Verbindung. Für Torill ist Dam eine Expertin. „Sie hat das alles vor mir durchgemacht und sie sagt mir, welches Gefühl ich als nächstes haben werde“, sagt Torill. Boudreau findet ebenfalls Trost in diesen virtuellen Zusammenkünften. „Es ist komisch, Karolina und ich skypen oder ich skype mit einer der anderen Mütter und plötzlich sagt jemand etwas und im nächsten Moment fangen wir alle an zu weinen.“ Die Gespräche gäben ihr das Gefühl, dass wir „noch Menschen sind“.
Bons, Ben Ali und Valerie verbindet mittlerweile eine tiefe Freundschaft, auch wenn ihre Wege sich ohne ihre Kinder niemals gekreuzt hätten. Bons ist eine schlanke, 60-jährige Soldatin im Ruhestand aus Toulouse mit blondierten Haaren und auffällig blauen Augen, und sie hat zwei Kinder an den IS verloren. Ihr Sohn Nicolas und ihr Stiefsohn Jean-Daniel waren im März 2012 nach Syrien abgehauen. Jean-Daniel starb im August im Alter von 22 Jahren und im Dezember erhielt Bons eine SMS, dass Nicolas mit 30 Jahren gestorben war. Er war offensichtlich mit einem Lastwagen voller Sprengstoff in ein Gebäude in Homs gerast.
Ben Ali, eine mollige Frau mit schokoladenbraunen Augen, denen man ihr gebrochenes Herz ansieht, ist Muslima, doch sie trägt Nylonhosen und lässt ihr Haar unbedeckt. Ihre vier Kinder wurden alle in Belgien geboren. „Ich lebe den Islam im Stillen aus“, erzählte mir Ben Ali bei unserem ersten Gespräch im Frühjahr. Doch ihn im Stillen auszuleben genügte ihrem zweitältestem Sohn Sabri nicht. Im August 2013 ging er ohne etwas zu sagen von zu Hause weg. Vier Tage später schickte er Ben Ali eine Facebook-Nachricht: „Mama, ich bin in Syrien, und wir werden uns im Himmel wiedersehen.“ Monatelang versuchte sie, ihn zur Vernunft zu bringen. „Es gibt sieben Bedingungen, dass es sich um einen Dschihad handelt“, erklärt sie. „ Für mich ist der Krieg in Syrien kein Dschihad ... es ist ein Bürgerkrieg.“ Sie bemühte sich beständig, dem Rat von Köhler zu folgen – nämlich die Gehirnwäsche durch muslimische Theologie zu durchbrechen. Doch Sabri wollte nichts davon wissen. Nachdem er getötet worden war, kamen ihre Nachbarn in Brüssel auf sie zu und sagten: „Dein Sohn ist ein Märtyrer. Und jetzt schließe mit ihm ab und sprich nicht mehr über ihn.“ Sie antwortet, dass sie niemals aufhören werde, über Sabri zu sprechen, und der Nachbar brach den Kontakt zu ihr komplett ab.
Valerie, die ihren Familiennamen nicht nennen will, ist die einzige Mutter, die ich treffe, deren Kind noch lebt. Ihre 18-jährige Tochter Léa (nicht ihr richtiger Name) lebt irgendwo in der Nähe von Aleppo. Als Léa 16 war, lernte sie ohne das Wissen von Valerie einen 22-jährigen Algerier kennen, ein Mann, durch den sie konvertierte und radikalisierte. Am 5. Juni 2013 umarmte und küsste Léa ihre Mutter nach dem Abendessen, ging aus dem Haus und verschwand. Valerie dachte, dass sie entführt worden sei, doch Léa und der Algerier waren in Wirklichkeit auf dem Weg nach Syrien. Valeries dringlichster Herzenswunsch ist es, dass ihre Tochter wieder nach Hause zurückkehrt. Doch sie weiß auch, dass Léa auf gewisse Art nicht mehr ihr Kind ist. Ihre Anrufe und Chats auf WhatsApp klingen eingeübt, roboterhaft. Vor ungefähr zehn Monaten hat Léa einen Sohn zur Welt gebracht und ihre Stimme wird weicher. Manchmal bittet sie Valerie um Erziehungstipps, und Valerie glaubt, dass ihre Tochter sie jetzt, da sie selbst Mutter ist, besser versteht. Dennoch weiß Valerie, dass es, selbst wenn sie Léa und das Baby irgendwie retten könnte, eine hoffnungslose und entmutigende Herausforderung wäre, Léa wieder in ihr normales Leben zu integrieren. „Wenn ich erfahren würde, dass meine Tochter tot ist“, sagt Valerie weinend, „wäre es vielleicht leichter“.
Doch an diesem Nachmittag in Paris wollten die Mütter eigentlich nicht über ihre Kinder sprechen. Sie wollten sich über ihren Aktivismus unterhalten, und die nie endende Anzahl an Presseanfragen, darüber, mit welchen Reportern sie sprechen wollten und mit welchen besser nicht. Sie erzählten von Fernsehteams, die ihre Häuser tagelang belagert hätten und sie unterhielten sich darüber, dass es jedes Mal schwerer würde, ihre Familien davon zu überzeugen, noch einmal ein Interview zu geben. An die Öffentlichkeit zu gehen, wurde am Ende noch anstrengender, als sie alle erwartet hätten. Man beschimpfte sie und warf ihnen vor, als Eltern versagt zu haben. Sie dachten, Aktivismus würde ihnen dabei helfen, damit fertig zu werden, doch jedes Interview erinnert sie aufs Neue an das Schlimmste, was ihnen jemals passiert ist. „Ich kann nicht 24 Stunden am Tag darüber sprechen“, klagt Valerie. „Ich kann so nicht leben.“
Und dennoch beschäftigten sich die Mütter seit dem Weggang ihrer Kinder nur noch mit dem IS. Sie kennen sich bestens mit der Geografie Syriens aus, mit den Gruppierungen des vierjährigen Bürgerkrieges; sie sprechen die Sprache des Dschihad fließend. Als diese jungen Männer und Frauen nach Syrien gingen, nahmen sie ihre Mütter mit, denn wie sollte es anders sein? Manchmal bedeutet das mehr, als nur den Tiefen der Social-Media-Profile des IS zu folgen. Diesen Frühling versuchte Ben Ali mit zwei weiteren Müttern, nach Syrien zu gelangen, um sich anzusehen, was ihre Söhne in ihren letzten Monaten erlebt hatten. Sie wurden von türkischen Behörden an der Grenze aufgehalten, doch Ben Ali erzählte mir, dass sie durch das Leid der syrischen Flüchtlinge bereits einen Einblick erhalten hätte, warum ihr Sohn sie verlassen hatte. „Ich kann jetzt sagen, dass mein Sohn sehr viel Mut hatte“, sagt sie. Ihre Suche sei nicht ungewöhnlich, erzählte Ranstorp mir. „Viele Eltern suchen in der Türkei nach ihren Kindern oder versuchen selbst nach Syrien zu gelangen ... Manche wurden sogar vom Islamischen Staat verhaftet.“
Bisher kann keine der Mütter loslassen. Loszulassen würde bedeuten, dass sie dabei zusehen müssen, wie die Kinder anderer Mütter ebenfalls den Verlockungen der radikalen Imame verfallen und als Selbstmordattentäter enden. Loslassen würde bedeuten, die Verbindung zu ihren eigenen Kindern abzubrechen. Durch ihren Aktivismus, durch ihre endlose Suche nach Antworten, hat jede von ihnen einen Weg gefunden, ihr Kind am Leben zu halten, auch wenn sich das negativ auf die Psyche auswirkt. Dam erzählte mir, dass sie jeden Morgen nach dem Aufwachen einen kurzen Augenblick des Vergessens erlebe, einen winzigen Moment, der sie an ihr altes Leben erinnere. Und dann, sagt sie, „werde ich wieder in diese völlig fremde Welt hineingezogen, von der ich bisher gar nicht wusste, dass sie existiert“.
Boudreau sitzt auf einem Barhocker am Tisch in ihrer kleinen Küche, die sie auch als Büro nutzt. Sie hat gerade mit dem Vater einer jungen Frau namens Hoda gesprochen, die ihr Zuhause in Alabama verlassen hatte, um sich dem IS in Syrien anzuschließen. Boudreau hörte aufmerksam zu, wie der Vater beschrieb, dass Hoda ihn auf ihren eigenen Tod vorbereitet habe. Jordanien habe Luftangriffe aufgenommen und um sie herum würden alle sterben.
„Ich möchte einfach für Sie da sein und Sie auf jede erdenkliche Art und Weise unterstützen“, sagte Boudreau zu ihm, ihre Stimme voller Empathie. „Auch wenn Sie einfach nur schreien und weinen wollen, oder wenn sie nach anderen Menschen suchen, bei denen Sie Unterstützung und Rat finden können, melden Sie sich einfach bei mir, und ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um Ihnen zu helfen.“
Nach dem Anruf hatte Boudreau zehn Minuten Zeit, um im Supermarkt ein paar Dosen Tomatensuppe und ein paar Packungen Spaghetti für das Abendessen einzukaufen. Dann raste sie durch die Stadt, um ihre Stieftochter Paige von der Schule abzuholen. Während wir im Auto warteten, gab Boudreau der BBC ein langes, tränenreiches Interview über ihr Handy. Als Paige, ein schlaksiges Mädchen mit Brille, auf den Rücksitz sprang, war die Stimme von Boudreau noch immer belegt und sie antwortete zerstreut auf Paiges Geplapper. Sie musste nach Hause fahren und den Kindern Essen machen, bevor sie an einer Telefonkonferenz mit den Vertretern der somalischen Gemeinde Edmonton teilnahm, die Fördergelder für eine Deradikalisierungsinitiative benötigten. Außerdem musste sie packen: Um 6 Uhr morgens würde sie nach Montreal zur Talkshow eines Regionalsenders fliegen und sich mit der Mutter des jungen Mannes treffen, der im letzten Oktober auf das kanadische Parlamentsgebäude geschossen hatte. Boudreau setzte die Spaghetti auf und verließ den Raum, um noch ein Telefonat mit der Presse zu führen. Luke kam mit einem Freund von der Schule nach Hause und sie hatten beide ein großes Slush-Eis in der Hand und spielten im Garten. Paige zappte sich durch die Fernsehprogramme. Die Spaghetti kochten unbeaufsichtigt weiter.
Ich wollte mich gerade darum kümmern, als Mike, Boudreaus Lebensgefährte, von seiner Arbeit auf einer örtlichen Baustelle nach Hause kam, staubig und erschöpft. Als ich mich für die Störung entschuldigte, murmelte er, dass ich nicht die erste Journalistin in seinem Haus sei. Ich fragte ihn, ob er für die Reportage mit mir sprechen wolle. „Oh, ich will mich da gar nicht einmischen“, sagte er. „Ich lebe in meiner eigenen Blase.“ Er machte sich ein Bier auf und entschuldigte sich.
Boudreau aß schnell einen Teller Spaghetti, gedankenverloren, und sie unterhielt sich kaum mit Mike und Paige, die zusammen mit ihr aßen. Dann setzte sie sich auf die Couch, die gleich daneben stand, und wählte sich in die Telefonkonferenz mit den Somalis ein. Ihr Gesicht erhellte sich, ihre Stimme wurde lauter, sie lachte laut und aufgeregt. Plötzlich war sie voll in ihrem Element. Paige und Mike aßen bis auf ein gelegentliches Flüstern schweigend weiter und versuchten, das Telefonat nicht zu stören. Dann schlichen sie sich auf Zehenspitzen hinaus, um sich ein Eis zu holen.
Köhler hatte mir erzählt, dass Boudreau „ihre Wunden auf proaktive Art“ nutze. Doch irgendwie zieht sie ihren toten Sohn ihrer Familie vor. Den Großteil ihrer Zeit verbringt sie in Damians Welt, nicht in ihrer eigenen, und dies hat ziemliche Auswirkungen auf ihr Leben. Sie arbeitet fast gar nicht mehr als Buchhalterin. Sie findet keine Vollzeitstelle mehr, was sie darauf zurückführt, dass sie als Mutter eines IS-Kämpfers an die Öffentlichkeit gegangen ist. Ihr ganzer Aktivismus führt nur zu immer stärkerem finanziellen Druck: Ihre Telefonrechnungen für Mai und Juni beliefen sich auf über 1000 US-Dollar (knapp 900 Euro).
Inzwischen wirkt sich der Tod ihres Sohnes auf die ganze Familie aus. Letzten Sommer zog Hope, Damians 13-jährige Halbschwester aus, um bei ihrem Vater zu leben. Sie hat zwölf Monate lang nicht mehr mit Boudreau gesprochen. Luke geht in Therapie und es wurde eine Anpassungsstörung bei ihm festgestellt. Der kleine Junge mit dem blonden Wuschelkopf und aufmerksamen, intelligenten Augen, erzählte mir, dass er in der Schule ausgegrenzt werde. „Sie sagen, dass ich zu viel darüber spreche und dass ich überdramatisch sei“, erklärt er. Manchmal ist er wütend auf Damian, weil er sein Indianerehrenwort gebrochen habe, dass er nach vier Jahren in Ägypten wieder nach Hause komme. Manchmal gibt er sich selbst die Schuld und fragt sich, ob er zu wild mit seinem Bruder war, wenn sie sich balgten. „Ich bin nur glücklich, wenn ich schlafffe“, sagt er.
Zu Beginn dieses Nachmittags saßen wir auf Boudreaus Terrasse, rauchten und sie erzählte mir, dass Damian nicht der erste Sohn sei, den sie verloren habe. 2001 starb Hopes Zwillingsbruder mit einem Monat am plötzlichen Kindstod. Sein Tod stürzte Boudreau in eine tiefe Depression und traf auch Damian schwer. „Mike ist nicht glücklich, es ist ihm alles zuviel“, sagt sie. „Er will, dass ich meinen Aktivismus beende, er will, dass alles wieder so wird, wie es einmal war.“
In manchen Nächten überfällt Boudreau die schwere Last von all dem, was über sie hereingebrochen ist. In diesen Nächten steigt sie, während das ganze Haus schläft, in ihr Auto, das voller Spuren ihres kleinstädtischen Familienlebens ist und sie brüllt Damian an, als würde er neben ihr auf dem Beifahrersitz sitzen. Sie schreit ihn an für das, was er ihrer Familie angetan hat, dafür, dass er sie zerstört hat und dass er Luke zerstört hat, dafür, dass er in Frieden ruht, während sie das Irreparable reparieren soll. Dann weint sie, und die starke Fassade, die sie für ihre anderen Kinder aufrecht erhält, bekommt einen Riss. Und wenn sie alles herausgeweint hat, dann geht sie nach oben, legt sich neben Mike ins Bett und versucht wie Luke, Trost im Schlaf zu finden. Morgen ist ein weiterer Tag mit Presseinterviews und Telefonanrufen, ein weiterer Tag des Lebens, das Damian für sie ausgewählt hat. „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß“, sagte mir Boudreau, zog an ihrer Zigarette und blinzelte in die Spätnachmittagssonne, „dann hätte ich niemals Kinder bekommen“.
Dieser Artikel ist ursprünglich bei der Huffington Post Highline erschienen und wurde von Susanne Raupach aus dem Englischen übersetzt.