Lagarde-maß für die Galaxie

Die erste weibliche IWF-Chefin über den griechischen Zusammenbruch, eine historische Flüchtlingskrise und eine Sache, die Hillary Clinton mit einem “alten Krokodil” gemeinsam hat.
Interview von Isaac Chotiner
Illustrationen von Rob Dobi

Christine Lagarde, IWF, über Griechenland, Flüchtlinge und die Kluft zwischen den Geschlechtern.

LaGarde

Die morgendliche Szene im New Yorker Carlyle Hotel ist die perfekte Illustration des Begriffs “Power-Frühstück”. Im Parterre des opulenten Art-Déco-Hotels – lange Zeit das Lieblingshotel amerikanischer Präsidenten und die bevorzugte Residenz in Manhatten von Gästen angefangen bei Prinzessin Diana über Mick Jagger bis hin zu George Clooney war – genossen tadellos gekleidete Herren das Buffet, während etliche verschiedene Sicherheitsleute durch die Lobby walzten.

Christine Lagarde, das Oberhaupt des Internationalen Währungsfonds, sitzt mit einem Berater an einem extra Tisch. Seit Lagarde, 59, beim IWF an die Stelle von Dominique Strauss-Kahn getreten ist – eine ehemals farblose Institution, geschaffen 1944, um finanzielle Stabilität vor allem durch die Aufsicht über Wechselkurse zu sichern – hat sie sich inmitten von nicht nur einer, sondern gleich mehrerer globaler Notlagen wiedergefunden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch Europas bedrohte nicht nur die Zukunft der Gemeinschaftswährung, sondern die ursprüngliche Idee der Europäischen Union selbst. Jetzt muss die immer noch stagnierende Wirtschaft des Kontinents mit der größten Flüchtlingsflut, die die Welt seit dem Sieg über den Faschismus je gesehen hat, zurecht kommen. Unter Lagardes Führung hat der IWF seine Vollmachten bedeutend ausgebaut. Nicht nur, indem er eine Schlüsselrolle nach dem Zusammenbruch der Märkte spielte, sondern auch, indem er umstrittende Berichte über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Erderwärmung, der Ungleichheit und des Missverhältnisses zwischen den Geschlechtern herausgab.

Ein Interview mit Lagarde ist nicht wie ein Interview mit den meisten anderen Politikern oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sie ist eine gute Zuhörerin, die sich aufmerksam in ihrem Stuhl nach vorn lehnt. Sie lacht oft, checkt kein einziges Mal ihr Handy (das grenzte an das Unvorstellbare) und beantwortet Fragen zu allen möglichen Themen ohne wirklich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Während unseres einstündigen Gesprächs, welches leicht redigiert und im Dienste der Klarheit gestrafft wurde, berichtet sie über ihre Frustration bezüglich Griechenlands, ihrer privaten Unterhaltungen mit Angela Merkel und Hillary Clinton und ihrer Gedanken darüber, wie Menschen auf mächtige Frauen reagieren.

Isaac Chotiner: Henry Kissinger oder jemand, der mir nicht einfällt (und ich entschuldige mich dafür, ihn für Sie zu zitieren) sagte –

Christine Lagarde: [Lacht] Ich werde ihn heute später noch treffen.

IC: Das tut mir dann doppelt leid. Er sagte etwas darüber, dass, wann immer es in Europa ein Problem gibt, man nicht weiß, wen man anrufen soll.

CL: Ja, ja, ja, ja.

IC: Also wen rufen Sie an?

CL: Raten Sie.

IC: Angela Merkel.

CL: [Nickt und lächelt.]

IC: Das ist interessant.

CL: Ich meine, das ist die Realität. Ich rufe Pierre Moscovice 1 an und er geht ans Telefon.

1 Der Europäische Kommissar für Wirtschaft und Finanzen, Steuern und Zollwesen.

IC: Merkel geht nicht ans Telefon, wenn Sie anrufen?

CL: Nein, nein, nein, das tut sie. Wir arbeiten zusammen. Erst schreiben wir uns SMS und dann sprechen wir miteinander, wenn wir beide Zeit haben.

IC: Griechenland und seine Gläubiger haben einen Vergleich ausgehandelt, der ein Rettungspaket im Austausch gegen Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen enthält, um eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands zu vermeiden und das Land im Euro zu halten. Aber angenommen, dass Griechenland und Deutschland bei derselben Währung bleiben, was manche Menschen für eine Erbsünde halten, was soll verhindern, dass diese Probleme wieder auftreten?

CL: Vor allen Dingen verstehe ich, warum Sie Griechenland und Deutschland vergleichen. Aber es gibt andere Länder, wo die Schwankung der wirtschaftlichen Stärke und der Zahlungsbilanzen größere Hindernisse für die Integration hätten sein können. Irland, Portugal und schließlich auch Spanien. Und es ist klar, dass diese drei zeigen, dass man eine Situation retten kann, wenn Länder weiterhin funktionieren können.

IC: Aber ist nicht das Problem mit einer Währungsunion, dass, wenn ein Land schlechte Entscheidungen trifft, alle das Risiko tragen? Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch, wenn Griechenland diese Krise überlebt, es wieder passieren wird.

CL: Möglicherweise, möglicherweise. Die Konsequenz daraus, dass Griechenland in einer Union mit einer einzigen Währung verbleibt, ist, dass ihm ein bestimmtes Werkzeug im Kampf gegen die Rezession fehlt. Es kann nicht abwerten, wie andere Länder außerhalb der Währungszone es können. Sie werten ab, sie verbessern ihre Wettbewerbsfähigkeit. Daher müssen sie ihre Produktivität auf zweierlei Weise wiederherstellen: Sie arbeiten an ihren Lohnstückkosten, wie es in Portugal, Spanien, Irland und Griechenland geschehen ist. Und sie verbessern durch Neustrukturierung grundsätzlich ihre Wirtschaft, um sie agiler und innovativer zu machen. Das ist die Wahl, die Griechenland noch treffen muss. Die andere Sache mit Griechenland, die es zu einem Sonderfall in der Eurozone macht, ist, dass es eine Kultur der … [macht eine Pause]

IC: Sie können ruhig unhöflich sein. Das ist in Ordnung.

CL: Ich will niemanden beleidigen. Sie versuchen, diese Kultur zu ändern. Aber es gab – bis zu einem gewissen Grad in der Gesellschaft – eine Kultur, nicht durch Steuerzahlungen zur Gesellschaft beizutragen. Laut Verfassung ist die gesamte Reeder-Branche steuerbefreit. 2 Und im Laufe der Zeit zählte immer mehr zur Reederei. Einer der Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, ist, die Definition der Reeder-Branche einzuschränken und sie dazu zu bewegen, Steuern zu zahlen. Es ist ein wenig bizarr. An einem Punkt vor 18 Monaten bot die Reederei-Branche eine freiwillige Beitragszahlung für die griechischen Steuerbehörden an, da sie keine Steuern zahlte. Das passiert nicht überall.

2 Griechenlands Reeder-Branche ist verantwortlich für mehr als sieben Prozent des BIP. Griechische Firmen kontrollieren fast 20 Prozent der weltweiten Frachtschiffflotten.

IC: Der IWF brachte vor einigen Monaten einen Bericht heraus, in dem stand, dass die Schulden Griechenlands neu strukturiert oder erlassen werden müssten und dass dies unvermeidlich sei.

CL: Wir sagten nicht ‘erlassen’. Wir sagten ‘umschulden’.

IC: Glauben Sie, dass der IWF das vor fünf Jahren hätten sagen können oder sollen? Hätte das einen Unterschied machen können, wenn man bedenkt, dass die Misere in Griechenland immer noch anhält?

CL: Wir haben uns im Winter 2011 oder 2012 sehr stark für die erste Umschuldung des privaten Sektors eingesetzt.

IC: Aber sogar das war ziemlich spät, oder? In Anbetracht dessen, wann die Krise begann.

CL: Wissen Sie, rückblickend lässt sich das sehr einfach sagen. Aber zu dieser Zeit, und damals war ich noch nicht einmal beim IWF, hatten wir keinen Europäischen Stabilitätsmechanismus. . 3 Und keiner von uns, in unseren Ländern, wollte, dass dieser Einzelfall sich auf die ganze Europäische Union auswirkte. Werden Sie ein Buch über Griechenland schreiben?

3 Gegründet 2012, wurde er ESM errichtet, um schlecht aufgestellten europäischen Ländern in fiskalischen Notlagen finanziell zu unterstützen.

IC: Das ist die letzte Griechenland-Frage. Als der IWF diesen Bericht herausgab –

CL: Die Leute waren nicht begeistert.

IC: Weil Sie mit der Wirtschaft nicht einverstanden waren oder weil eine Umschuldung ein großes politisches Problem war?

CL: Ich glaube, dass es eher ein politisches Problem war. Mit diesem Schuldenstand, mit diesem Rückzahlungsplan, mit dem Mangel an Attraktivität Griechenlands als Ort für Investitionen - jeder weiß, [eine Umschuldung] muss sein.

IC: Wenn Sie also mit Angela Merkel oder dem deutschen Finanzminister sprechen, glaube Sie, dass sie wissen, dass eine Umschuldung nicht vermeidbar ist, und dass ihr Widerstand dagegen im Hinblick auf die deutschen Wähler erfolgt?

CL: Ich glaube, dass das eine große politische Dimension hat.

Ich habe bemerkt, dass, wenn eine Frau spricht, Leute anfangen, zu reden und ihre Mails zu checken oder etwas anderes zu tun. Es ist sehr, sehr seltsam.
Roto: Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images.

IC: Glauben Sie, dass Europa die Lektion gelernt hat, dass Austerität, also Sparpolitik in Krisenzeiten nicht funktioniert?

CL: Ich glaube nicht, dass es momentan Austerität gibt. Es gibt heute keine fiskalische Kontraktion. Spanien hat sich recht gut entwickelt. Das Vereinigte Königreich ging mit harter Hand daran – Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen. Es hat sehr ungeschickte Auseinandersetzungen über Steuerkonsolidierung gegeben. Aber im Grunde, hat Austerität funktioniert? Eine wohl ausbalancierte Disziplin hat tatsächlich funktioniert.

IC: Waren Sie an vielen solcher Verhandlungen beteiligt?

CL: Ja.

IC: Es muss faszinierend sein, Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern und Kulturen zu haben. Hier haben Sie die Fed, und es gibt nur einen Banker aus Dallas und einen aus Kansas City. Dort jedoch haben Sie [den griechischen Premierminister] Alexis Tsipras und Merkel.

CL: Nun, zunächst laufen solche Treffen so ab, dass es zuvor eine Menge Vor-Treffen gibt, um Grundsätzliches zu klären. Dann beginnt die eigentliche Beratung und Anliegen verschiedener Art werden vorgebracht. Und es gibt eine Hürde. Jemand sagt: “Lasst uns einen Durchbruch in dieser Sitzung schaffen”, und die Leute versuchen, Fortschritte zu machen. Und dann kommen Sie zu der Beratung. Die Länge solcher Sitzungen, in denen ein Durchbruch erlangt wird, verrät unweigerlich viel über die Größe der Hindernisse. Wir hatten zwei aufeinanderfolgende Nächte Mitte Juli kurz nach der Schuldenanalyse in Griechenland. Die letzte bilaterale Verhandlung nahm viel Zeit in Anspruch. Zwei oder drei Stunden. Und letzten Endes wurde sie mit vier Akteuren im Raum beendet. Ich werde Ihnen nicht erzählen, wer es war.

IC: Werden Sie nicht?

CL: Nein. [Lacht.]

IC: Ich möchte zu einem anderen Thema kommen: Sie haben darüber gesprochen, wie es ist, als Frau in einer Führungsposition zu sein. Haben Sie jemals das Gefühl, dass Weltpolitiker oder Zentralbanker Sie aufgrund Ihres Geschlechts anders behandeln?

CL: Nein. Ich fühle mich nicht anders behandelt, aber ich rätsle immer noch darüber, ob es an der Institution liegt, die ich repräsentiere, oder an der Autorität, die diese mit sich bringt. Oder ob es damit zu tun hat, dass man vor mir ebenso Respekt hat wie vor einem Mann. Ich bin immer noch ein wenig im Zweifel darüber, ob es eine leicht ablehnende Haltung gegenüber meinen Ansichten gibt, weil ich eine Frau bin. Ich mag unfair sein, weil ich denke, dass Leute in Meetings und großen Gruppen oft sehr respektvoll waren und sich oft auf die Ansichten des IWF bezogen haben, die ich zum Ausdruck bringe. Aber eine Sache, die ich sagen möchte, ist, dass ich in vielen Foren, auf denen ich anwesend war, bemerkt habe, dass, sobald eine Frau spricht, die Leute anfangen, sich zu unterhalten oder ihre Mails anzuschauen oder etwas anderes zu tun. Das ist sehr, sehr seltsam. Wenn Sie an großen, gemischten Gruppen teilnehmen …

IC: Sollte ich darauf achten?

CL: Achten Sie darauf. Ich sitze oft solchen Meetings vor, und wenn ich das sehe, klopfe ich auf das Mikrophon. [Tut so, als ob sie einen tödlichen Blick in den Raum wirft.]

IC: Haben Sie darüber je mit Merkel gesprochen? Sie ist einer der drei oder vier mächtigsten Menschen auf der Welt, unbestreitbar, und ich kann mich nicht daran erinnern, wann das zuletzt zugetroffen hat.

CL: Ich glaube, Thatcher war die letzte, zumindest innerhalb Europas. Ich habe mit ihr darüber gesprochen, aber sie sieht das anders.

IC: Wie denn?

CL: Nun, das sollte sie wahrscheinlich selbst sagen, aber ich glaube, sie hat andere Erfahrungen mit Ungleichheit und Diskriminierung gemacht. Und das ist, was sie über sich sagt. Geboren und aufgewachsen im Ostblock, gab es keine Diskriminierung zwischen Mädchen und Jungen. Jeder musste zur Schule gehen. Sie sagt, dass sie im Ost-System nie Diskriminierung erlebt hat. Was aber nicht heißt, dass sie dieses gutheißt.

IC: Gibt es hinsichtlich der Geschlechter einen Unterschied zwischen Europa und Amerika?

CL: Ja. Ich habe meine Kinder aufgezogen, eines davon in Frankreich. Ich hatte Kinderbetreuung, öffentlich finanziert, von drei Monaten bis drei Jahren. Ich brauchte ein wenig Unterstützung seitens der Familie, aber all das ist viel stärker akzeptiert. Das mag nicht in allen Ländern so sein. In Deutschland gibt es eine Art kultureller Voreingenommenheit gegenüber Frauen, die nicht für einige Zeit zu Hause bei ihren Kindern bleiben. Aber wenn ich dort mit jungen Müttern spreche, so höre ich, dass sie es schwer haben, Unterstützung zu erhalten.

IC: Wenn Sie sprechen, werden Sie zum Beispiel unterbrochen? Gibt es hier Unterschiede?

CL: Oh, die Leute unterbrechen mich nicht, wenn ich spreche. Wenn sie es tun, kommentiere ich das, indem ich diese Person ansehe. [Ein weiterer tödlicher Blick.] Das lässt einen sehr schnell frösteln. Es ist unhöflich. Entweder ist man im Raum oder man ist nicht im Raum. Ich sagen den Leuten: “Legen Sie das Display-Dingens weg.” [Tut so, als ob sie ihr Telefon mit dem Display nach unten auf den Tisch schlägt.] Die einzige Person, die es benutzen darf, ist der Kommunikationsleiter. Manchmal schummeln die Leute, aber ich sehe das.

IC: Haben Sie einen Ratschlag für Frauen wie Hillary Clinton, die sich um öffentliche Ämter bewerben, wie man mit diesen Problemen umgeht?

CL: Sie braucht keine Ratschläge von mir. Sie ist eine starke Frau. Wie sie sagte, hat sie eine Haut, so dick wie ein altes Krokodil.

IC: Ich kann es nicht erwarten, bis die Republikaner von dieser Zeile erfahren.

CL: Nein, nein, nein, nein, nein. Dicke Haut. Altes Krokodil ist etwas unfreundlich. Das will ich nicht sagen. Aber Sie brauchen eine dicke Haut in der Welt der Politik, und Sie brauchen eine noch dickere Haut, wenn Sie eine Frau sind.

IC: Sie übernahmen den IWF zu einer Zeit, als Ihr Vorgänger, Dominique Strauss-Kahn, Probleme mit –

CL: Sex hatte. 4

4 Um zu rekapitulieren, nur für den Fall: Strauss-Kahn trat vom IWF zurück, nachdem er dafür angeklagt worden war, eine Frau, die in einem New Yorker Hotel arbeitete, in dem er übernachtete, sexuell belästigt zu haben. Die Strafanzeige wurde schließlich fallen gelassen. Es kam zu einem Zivilprozess mit der Hotelangestellten. Es war eine Katastrophe.

IC: Ich wollte sagen mit Geschlechterfragen, aber Ihr Wort ist weniger euphemistisch. Als Sie anfingen, hatten Sie da das Gefühl, einen neuen Ton vorgeben zu müssen?

CL: Ich werde niemals die erste Personalversammlung vergessen, an der ich teilnahm, als ich anfing. Ich kam am vierten Juli in den Vereinigten Staaten an, verbrachte die Nacht in einem tristen Hotelzimmer, und dachte, was in aller Welt tue ich hier? Ich ging am fünften Juli zur Arbeit und die erste Versammlung im IWF-Hauptquartier war entweder an diesem Nachmittag oder am Morgen darauf. Und die Atmosphäre, die Besorgnis – es war ein sehr seltsames Gefühl der Besorgnis, der Frustration, der Erwartung. So etwas hatte ich nicht erwartet. Und ich fühlte, dass wir uns bewegen mussten. Dass wir darüber hinwegkommen mussten. Sie hatten die letzten paar Monate seit dem 15. Mai damit verbracht, jeden Morgen nachzusehen, was es Neues zu dem Skandal gab. Für eine Gruppe von so intelligenten Menschen war das ein wenig lähmend. Also dachte ich: Wir sollten uns auf gute Arbeit konzentrieren.

Und dann fragte mich [Strauss Kahn], ob er kommen und auf Wiedersehen sagen könnte, weil es ihm unter diesen Umständen bisher nicht möglich gewesen war. Und ich dachte, ja, so können wir die Wunden heilen.

IC: Der Fond brachte auch einen Bericht über Ungleichheit und Wirtschaftswachstum heraus.

CL: Wir haben tatsächlich zwei Berichte herausgebracht.

IC: Inwiefern ist der Kampf gegen Ungleichheit Teil der Mission des IWF?

CL: Ich denke, die Folgerungen aus unserer Arbeit waren zu allererst, dass übermäßige Ungleichheit kontraproduktiv für nachhaltiges Wachstum ist. Und jeder möchte nachhaltiges, starkes, gleichmäßiges Wachstum. Nun, wenn wir mit Logik an dieses Ziel herangehen, dann können wir uns übermäßige Ungleichheit nicht leisten. Das rechtfertigt, dass der IWF darüber forscht. Der zweite Bericht sagte aus, dass Umverteilung nicht notwendigerweise Wachstum hemmt. Es gab diese konventionelle Weisheit, dass Umverteilung sich nicht positiv auf Unternehmertum auswirkt, und unsere Ergebnisse waren gegenläufig dazu.

IC: Sind Sie darüber besorgt, dass mit Dingen wie diesen –

CL: Das müssen wir von Amts wegen sein –

[Lautes Lachen und Reden von einem Tisch in der Nähe]

Amerikaner sind so laut. Es ist richtig bizarr, nicht? [Sie und ihre Begleitung erörtern, ob man in einen anderen Raum wechseln solle.] Wie auch immer, ich denke, sie werden nach und nach leiser sprechen. Das passiert normalerweise.

IC: Sie könnten ihnen diese Blicke senden.

CL: Ja, dann würden sie mir den Rücken zuwenden. Also, ich glaube, über Ungleichheit zu forschen ist von entscheidender Wichtigkeit, aber wir müssen unsere Arbeit auf das Mandat des IWF beschränken. . 5 Ich kann diese Institution nicht in Territorien über ihre Charta hinaus führen, denn dann käme prompt die Retourkutsche.

5 Das Mandat des Fonds wurde “2012 auf alle Angelegenheiten der Makroökonomie und des Finanzsektors erweitert, die wichtig für die globale Stabilität sind”, so die Website des IWF.

IC: Machen Sie sich Sorgen, wenn der IWF Ungleichheit und die Erderwärmung kommentiert?

CL: Oder Geschlechterspezifisches. Ich glaube, wir haben den Sieg davongetragen. Der Ausschuss ist überzeugt – oder die meisten im Ausschuss sind überzeugt, dass es notwendig ist, die Themen Geschlecht, Ungleichheit und Klimawandel zu untersuchen. Also denke ich, dass es in Ordnung ist, aber es war nicht leicht. Vor zwei Jahren hatten wir einige Ausschussmitglieder, die sehr skeptisch gegenüber der Forschungsrichtung waren. Ich glaube, wir sind jetzt angekommen. Ich meine, wenn Sie Zahlen präsentieren, die zeigen, dass das BIP um einen Faktor irgendwo um 23 Prozent steigt, wenn Frauen zur Gesellschaft und Wirtschaft beitragen, wie beispielsweise in Saudi Arabien und Indien oder um drei Prozent in Amerika, dann ist das ziemlich überzeugend. annotations_6_anchor$$

6 Laut einem IWF-Bericht würde das BIP um fünf Prozent in den USA, neun Prozent in Japan und 34 Prozent in Ägypten steigen, wenn ebenso viele Frauen berufstätig wären wie Männern.

IC: Richtig. Es ist schockierend, dass die Wirtschaft leidet, wenn Sie Frauen nicht Auto fahren lassen.

CL: Ja.

IC: Wenn wir gerade von Dingen sprechen, die nicht unmittelbar etwas mit dem Bereich des IWF zu tun haben: Die Flüchtlinge in Europa. Wie sind Sie dar involviert?

CL: Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir haben ein Programm in Jordanien. Jordaniens Bevölkerung hat durch die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien um 25 Prozent zugenommen. Ihr Steuerkonsolidierungsprogramm wurde komplett geändert, so dass die Jordanier mit dem Flüchtlingsstrom umgehen können. Das Zweite, was wir tun, und hoffentlich wird es den Europäern helfen, ist Analysearbeit des wirtschaftlichen Einflusses von Migration und die Art, wie Flüchtlinge entweder willkommen geheißen werden oder nicht, und wie sehr dies Ländern helfen kann, in denen sich die Überalterung der Bevölkerung zu einem großen wirtschaftlichen Problem auswächst.

IC: Die Deutschen scheinen zu glauben, dass dies in gewisser Weise eine Chance sein kann.

CL: Sie haben Recht.

IC: Sie glauben, sie haben Recht?

CL: Ich will nicht voreilig urteilen, weil sie nicht die Analysearbeit gemacht haben, aber ich würde wetten, wenn die Zuwanderung gut gemanagt wird, dass es sich positiv auf die Gesellschaft auswirkt, die altert und den fiskalischen Spielraum hat, sie zu beherbergen.

IC: Machen Sie sich Sorgen, dass es zu einer politischen Gegenbewegung in Europa kommen wird? ISIS-Anhänger, die mit reinrutschen, oder so?

CL: Ich denke an zwei Effekte. Der Graben, der innerhalb der Eurozone wächst, wo sie, zum ersten Mal überhaupt, Innenminister haben, die sich zu einer Flüchtlingsquote äußern müssen. Normalerweise werden Entscheidungen im Konsens getroffen. Fünf Länder haben abgelehnt und doch wurde die Ansicht der Mehrheit durchgesetzt. Der zweite ist der Praktische, wie man die Zuwanderung von Flüchtlingen organisiert. Das ist eine große Belastung.

IC: Das passt zu übergreifenderen Fragen über den IWF. Die Menschen sagen, dass dieser eine Organisation von Technokraten ist, und es sieht so aus, als würden wir uns in einer sehr anti-technokratischen Zeit befinden - nicht nur in Amerika mit Leuten wie Donald Trump, sondern auch in Frankreich mit Marine Le Pen und Anti-EU-Ressentiments.

CL: Wenn jemand sagt: “Oh, das ist nur ein Haufen von Technokraten”, kann ich nicht anders, als an unsere Expeditionsteams zu denken, die inmitten des Aufruhrs gefangen sind. Wir haben eben erst ein Team nach Burkina Faso geschickt.

IC: Nach dem Staatsstreich?

CL: Nach dem Staatsstreich. Wir haben auch Leute im Jemen. Sie mögen Technokraten sein, aber sie sind ebenso engagiert bei der Arbeit. Letztes Jahr haben wir einen Mitarbeiter in Kabul verloren–

[Eine Frau aus der Gesellschaft gegenüber beginnt, sehr laut zu reden]

Es ist interessant, dass die Frau schreit. Vielleicht muss sie so laut schreien, damit sie Gehör findet. Das nur nebenbei. Zweiter Punkt: Wir produzieren intellektuelle Arbeit über die wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft. Sie können keine politischen Entscheidungen auf der Basis von Populismus fällen. Wenn Sie das tun, gehen Sie große Risiken ein. Und der dritte Punkt ist, dass ich denke, in einer Zeit, in der so viele Brunnen gebaut werden, sind multilaterale Organisationen wie der IWF hilfreich, um Menschen ein Forum zu bieten.

IC: Also bedauern Sie es nicht, sich in Griechenland eingemischt zu haben?

CL: [Lächelt.]

IC: Wenn Sie über Wirtschaft und Politik lesen, wen lesen Sie gern?

CL: Martin Wolf.

IC: Noch jemanden?

CL: Ich lese fast wöchentlich den Economist, nicht komplett, aber ich lese ihn. Ich bin immer an meiner Dosis – ich will nicht sagen Skeptizismus – interessiert, aber ich lese die Kolumnen von Leuten wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman.

IC: Sie scheinen ein wenig skeptisch.

CL: Ich glaube, sie haben auf ihre Art Vorbehalte. Aber ich respektiere die intellektuelle Leistung, auf der sie ihre kleinen Gegen-Leitartikel und die in ihnen ausgedrückten Ansichten aufbauen. Ich lese immer, was Olivier Blanchard $annotations_7_anchor$$ zu sagen hat. Er besitzt ein breit angelegtes Verständnis von internationalen Sachverhalten, und schreckt nicht davor zurück, zuzugeben, wenn er etwas nicht weiß oder einen Fehler gemacht hat. Das respektiere ich sehr.

7 Blanchard ist der Chef-Ökonom des IWF.

IC: Wie gefällt Ihnen das Leben in Washington?

CL: Mir gefällt es nicht so gut wie in Chicago. Ich bin verwöhnt, denn ich habe dort fünf Jahre lang gelebt. Ich habe einige Zeit meines Lebens auch in Paris gewohnt. Aber ich mag D. C. Ich denke, es ist eine sehr grüne, saubere und vielfältige Stadt. Aber ich verbringe nur die Hälfte meiner Zeit hier. Ich hatte vorher nie eine so hohe Konzentration an diesen bestimmten Typen von Menschen gesehen: Lobbyisten, Anwälte, Politiker.

IC: Wenn Sie auf die Art zurückblicken, wie Europa und die Regierungen Obama und Bush mit der Krise umgegangen sind, wie glauben Sie wird die Geschichtsschreibung darüber urteilen?

CL: Ich glaube – ich hoffe – dass 2008 die richtigen Entscheidungen und Maßnahmen getroffen worden sind. Es gab eine Art Selbstzufriedenheit nach dem ersten großen Stimulus, als das Wachstum wieder eintrat. Die Leute dachten: “Wir können es jetzt gut sein lassen.” Ich glaube, dass es einen Mangel an Verständnis dafür gibt, wie tief die Finanzkrise die Volkswirtschaften auf der ganzen Welt berührt hat. Die Geldpolitik hätte eine viel längere und schlimmere Krise in Betracht ziehen sollen. Sie kam zurück, um uns heimzusuchen.

IC: Vielen Dank.

CL: Eine Sache, die Sie mich nicht gefragt haben, möchte ich noch sagen. Wenn ich Ihnen sage, dass es entscheidend sei, multilaterale und starke Institutionen zu haben, kann ich nicht verstehen, warum die US-Behörden die Verbesserungsvorschläge des IWF nicht ratifiziert haben. . 8

8 Das Weiße Haus hat versucht, den Kongress von den Verbesserungsvorschlägen des IWF zu überzeugen, die die Fähigkeit des Fonds stärkten, auf Finanzkrisen zu reagieren. Die Änderungen wurden von der republikanischen Opposition blockiert: Lagarde sagte “Ich werde einen Bauchtanz aufführen, wenn ich damit die USA dazu kriege, zu ratifizieren.”

IC: Ich kann Ihnen die Antwort geben.

CL: Ja. Ich sagte, dass das der Vernunft widerspricht. Die Institution hilft Griechenland und der Ukraine und trägt zur Stabilität bei. Und dennoch. So. Sie können mir unter vier Augen sagen, was Sie denken.

IC: Ich sage Ihnen das auch gern öffentlich. Das geht zurück darauf, was ich zu Populismus und Rebellion gefragt habe. Wir haben eine politische Partei, die nicht an der Regierung interessiert ist, denn das ist es, was die Basis der Republikaner will.

CL: Wie auch immer, ich ging gestern zur Messe und der Papst sagte, wir sollten hoffen. Also hoffe ich.

Credits

Interview - Isaac Chotiner
Isaac schreibt Beiträge für Slate. Er arbeitet gerade an einem Buch über britische Romanciers während des Zweiten Weltkriegs.
Art - Rob Dobi
Rob ist ein Illustrator aus Connecticut, dessen Werke in der New York Times, im Guardian, in Variety und vielen anderen Publikationen erschienen.
Development - Dan McCarey
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